Das weiße Krokodil
sein konnte. Und der zweite war vor kurzem gestorben. Der dritte aber wohnte in einem chinesischen Bauernhaus, das östlich des Klosters mit dem zweistöckigen Golddachtempel lag. Und damit ließ sich vortrefflich eine Beobachtung kombinieren, die man beim Einbalsamieren des 13. Dalai-Lama gemacht hatte. Denn dessen ursprünglich zum Himmel emporgerichtet gewesenes Antlitz hatte sich nach dem Hinzutun neuen Salzes eindeutig nach Osten gewandt!
Ermutigt durch so viel positive Hinweise, bat der mit der Führung der Expedition beauftragte Priester den greisen Tie-tie, ihm sein Gewand zu leihen, damit er sich, als Laienbruder verkleidet, dem Knaben nähern könne. Er wünschte ihn einer harten Prüfung zu unterziehen, und um diese so schwer wie möglich zu machen, forderte er Tie-tie des weiteren auf, ihn in der Kleidung eines Lamas zu begleiten und ihm die Nachbildung jenes Gebetskranzes zu geben, den der verstorbene 13. Dalai-Lama täglich benützt hatte und den er sich selbst um das Handgelenk legen wollte.
Tie-tie entsprach dem Wunsch des Priesters, mit dem er bald darauf das vom Pantschen-Lama bezeichnete Gehöft aufsuchte. Sein Herz klopfte ihm in der Kehle, und er war keines Wortes fähig, als sie das Bauernhaus betraten und ihnen ein knapp vierjähriger Knabe entgegenlief, der nur ein Bestreben zu haben schien: den Gebetskranz an sich zu reißen, den der als Laienbruder verkleidete Priester trug.
»Lama, Lama!« rief er dabei mit heller Stimme, und als er den Kranz in Händen hielt, schaute er wie erlöst zu dem Priester auf und seufzte: »Se-ra Lama!«
Konnte es einen sichtbareren Beweis dafür geben, daß die unsterbliche Seele des 13. Dalai-Lama in diesen Knabeneingekehrt war? »Sera Lama!« hatte er gesagt und dabei unverwandt den aus Sera kommenden Leiter der Expedition angesehen! Die Anwesenden hatten nichts anderes tun können, als den Boden mit der Stirn zu berühren und inbrünstig zu beten: »Om mani padme hum! O Kleinod in der Lotosblume, Amen!«
In aller Deutlichkeit sah Tie-tie die Bilder längst vergangener Tage an sich vorüberziehen, als er dem jungen Chinesen Yen-sun erzählte, wie es zur Suche und Auffindung der Inkarnation des 13. Dalai-Lama gekommen war. Erneut hörte er die zarte Stimme des Knaben, noch einmal fühlte er sich von der Größe des Augenblicks ergriffen, der dem tibetischen Buddhismus die 14. Wiedergeburt des ozeangleichen Oberpriesters geschenkt hatte. Es war ihm daher, als würde er aus einem himmlischem Traum gerissen, als ihn Yen-sun unvermittelt fragte: »Und deshalb hast du gelobt, in die Einsamkeit zu gehen?«
Tie-tie schüttelte den Kopf. »Nein, das Gelübde habe ich leider erst viel später abgelegt.«
»Wieso leider?«
»Weil es uns vielleicht schon früher Hilfe gebracht hätte, wenn ich… Aber urteile selber: meine Geschichte ist nämlich noch nicht zu Ende. Kaum war bekannt geworden, daß wir den Heiligen im neuen Fleische gefunden hatten, da ordnete Ma Pu-fang, der Gouverneur der Provinz Tsing-hai, die Internierung des Knaben im Kloster Kumbum an. Wir waren entsetzt und beruhigten uns erst wieder, als uns ein höherer Beamter zu verstehen gab, daß wir nach Zahlung eines Lösegeldes von dreißigtausend Dollar unbehelligt unserer Wege ziehen dürften. Über eine derartige Summe verfügten wir selbstverständlich nicht; wir veranstalteten jedoch sofort eine Sammlung unter den gläubigen Buddhisten und waren bereits nach wenigen Wochen in der glücklichen Lage, den geforderten Betrag zahlen zu können. Ma Pu-fang nahm das Geld auch dankend in Empfang, erklärte aber schon in der nächsten Minute, daß er sich bedauerlicherweise gezwungen sehe, nunmehr im Auftrage der Regierung Tschiang Kaischeks weitere hunderttausend Dollar fordern zu müssen.«
»Das war natürlich gelogen!« ereiferte sich Yen-sun.
»Bedauerlicherweise nicht«, entgegnete Tie-tie betrübt. »Anfangs dachten wir Ähnliches, bis wir eines Besseren belehrt wurden. Die Kuomintang-Regierung scheute sich tatsächlich nicht, uns zu erpressen. Als wir erklärten, hunderttausend Dollar unmöglich aufbringen zu können, zeigte uns das hämische Verhalten der Abgeordneten, daß wir ihnen damit nichts Neues sagten und daß es ihnen nicht um Geld, sondern um die Sicherung eines Druckmittels gegen die tibetische Regierung ging.
Wir waren verzweifelt und wurden es immer mehr, als wir nach monatelangen Verhandlungen erkennen mußten, daß die Gegenseite zu keiner Konzession bereit war.
Doch es kam
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