Das weiße Krokodil
schrillen Ton einer Schiffssirene herausgerissen. Entgeistert blickte er über das Wasser. Doch kaum hatte er den Bug des erwarteten Motorbootes entdeckt, das in langsamer Fahrt aus dem Klong in den See einlief, da erschrak er ein zweites Mal. Jäh einsetzende Fanfaren erfüllten die Luft. Und in ihren Lärm hinein erschallten dann auch noch die begeisterten Hochrufe von über sechzig Menschen. Der turbulente Auftakt gefiel ihnen offensichtlich so gut, daß sie der Reiseleitung stürmischen Applaus spendeten.
Tie-tie war entsetzt. Er starrte dem in mäßiger Fahrt auf ihn zukommenden Boot verständnislos entgegen.
Wie kann man angesichts dieses ruhigen Sees nur einen solchen Spektakel veranstalten, fragte er sich. Sollte es in den Städten schon so laut geworden sein, daß ihre Bewohner in der Einsamkeit von einer Art Angst befallen werden, die sie fortzuschreien versuchen?
Ein Zittern überfiel ihn. Dann erfaßte ihn Mitleid. Bedrückt schaute er auf das sich ihm nähernde Schiff, das zwei kleine Ruderboote hinter sich her zog und bald darauf an der Steintreppe anlegte.
»Da ist er!« riefen einige Fahrgäste und zeigten auf Tie-tie, über den sie ungeniert lachten.
»Oh, what a poor man!«
»Mon Dieu, sieht der komisch aus!«
»Und der soll den Mut haben, sich auf den Rücken eines Krokodils zu setzen?«
»Es wird ein ausgestopftes gewesen sein!«
Yen-sun sprang über die Reling und begrüßte Tie-tie mit strahlendem Gesicht. »Na, was sagst du? Fünfundsechzig Passagiere haben wir an Bord!«
Zwei Matrosen schoben Planken an Land.
»Ladies and gentlemen!« rief Yen-sun an die Gäste gewandt. »Gedulden Sie sich noch einen Augenblick! Wir sind gleich so weit, daß Sie aussteigen können. Die Führung übernimmt Mister Amahd. Postkarten und Andenken erhalten Sie bei mir. Wer über den See rudern möchte, kann eines der von uns mitgebrachten Boote erhalten. Unsere Rückfahrt findet pünktlich um ein Uhr statt. Sie haben also vier Stunden Zeit und brauchen sich nicht zu beeilen!«
»Und wann kommt das weiße Krokodil?« rief einer der Passagiere.
»Gegen elf. Es flüchtet aber sofort, wenn sich zu diesem Zeitpunkt nicht alle Gäste an der Pagode aufhalten.«
Tie-tie, der von alledem kein Wort verstand, warf Yen-sun einen hilflosen Blick zu.
Der schob ihn zur Seite. »Geh nach oben. Du stehst uns hier im Weg.«
Dem greisen Tie-tie war es, als habe er eine Ohrfeige erhalten. Er war der Meinung gewesen, daß er die Gäste willkommen heißen und zur Pagode führen solle. Und nun wurde ihm bedeutet, daß er im Wege stehe?
Der erste Passagier kam an Land und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.
Tie-tie ergriff sie voller Dankbarkeit und dachte versöhnt: Yen-sun weiß nicht, was sich gehört. Ich bleibe hier und werde jeden einzeln begrüßen.
Der nächste klopfte ihm grinsend auf die Schulter. »Hör zu, old fellow! Mir ist bekannt, daß es Dinge gibt, die man nicht für möglich hält. Aber wenn du dich auf den Rücken eines Krokodils setzt, dann fresse ich meine Schwiegermutter, obwohl die verdammt zäh sein dürfte.«
»Was sagte er?« fragte Tie-tie an Yen-sun gewandt.
Der lachte und schloß seine Verkaufstruhen auf. »Er findet dich nett und bittet um ein Gebet für seine verstorbene Tochter.«
»Sage ihm, daß ich seinen Wunsch erfüllen werde.«
Eine junge Dame hakte sich bei Tie-tie ein und forderte ihren Begleiter auf, sie in dieser Pose zu fotografieren.
Tie-tie lächelte verlegen.
Die nachfolgenden Menschen johlten vor Vergnügen, und im Nu war er von weiteren Passagieren umringt, die sich alle mit ihm fotografieren lassen wollten. Aber nicht einfach neben ihm stehend. Sie umarmten ihn, streichelten seine Wangen, faßten an seinen Bart und wurden schließlich so ausgelassen, daß eine wie ein Zirkuspferd aufgedonnerte Alte sich nicht scheute, ihn an sich zu reißen und zu küssen.
Tie-tie, der in seiner Gutmütigkeit alles mit sich hatte geschehen lassen, war außer sich vor Entsetzen. War er in ein Tollhaus geraten? Was waren das für Menschen? Woher nahmen sie den Mut, ihn wie einen Schwachsinnigen zu behandeln?
»Yen-sun!« rief er verstört. »Sage ihnen, daß sie mich in Ruhe lassen sollen.«
Der junge Chinese kam ihm sogleich zu Hilfe. Der um Tie-tie entstandene Wirbel, der die Passagiere von der Betrachtung seiner Auslagen abhielt, mißfiel ihm ohnehin. »Ladies and gentlemen!« wandte er sich an die Ausflügler und schob Tie-tie an seine Verkaufstruhen heran. »Mein alter
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