Das weiße Krokodil
leicht wie eine Feder und ließ sich von der Luft wie auf Händen tragen. Dabei legte sie sich zeitweilig sogar auf den Rücken, ohne darauf zu achten, wohin sie fiel. Wozu auch? Sehen konnte sie ohnehin nichts, da die sie umgebenden Schwestern ihr jede Sicht raubten. Das war zweifellos ein Nachteil, doch es war der einzige. Zumindest vorerst.
Mit der Zeit aber verlor das sanfte Dahingleiten seinen Reiz, und unsere Schneeflocke begann sich zu langweilen. Nun ja, was hat man vom schönsten Lebensgefühl, wenn man es nicht wahrnehmen kann. Und wenn sich alle auf den Rücken legen können, dann ist das nichts Besonderes und möchte man lieber sitzen oder stehen. Darüber hinaus beunruhigte es unsere makellos saubere Schneeflocke, daß das Licht des Tages von Minute zu Minute schwächer wurde. Einem Regentropfen kann es gleichgültig sein, wohin er fällt; er ist naß und säubert sich gewissermaßen selbst. Bei einer Schneeflocke ist das aber etwas anderes. Sie bringt dieses Kunststück nicht zuwege und muß deshalb sehr darauf achten, daß sie nicht schmutzig wird.
Die Nacht brach herein, und aus der Unruhe der Schneeflocke wurden Angst und Entsetzen. Ein Gefühl der Verlassenheit beschlich sie, bis sie mit einem Male einen unter ihr liegenden hellen Schimmer entdeckte, der sich bald darauf vergrößerte und als der Widerschein einer Stadt erwies, die von ungezählten Lichtern erhellt wurde.
Unsere Schneeflocke war außer sich vor Freude. Auch ihr zweiter Wunsch ging in Erfüllung, und einen prächtigeren Empfang konnte es für sie nicht geben. Tausende von Lampen lagen unter ihr. Ihr traumhaft schönes Kristallkleid glitzerte stärker als der kostbarste Brillant.
›Ach, wenn ich doch immer hier schweben könnte‹, dachte sie begeistert.
Das aber war nicht möglich. Sie sank weiter und weiter, hatte jedoch das Glück, nicht sogleich auf die Erde zu fallen. Sie glitt vielmehr an der Wand eines ungewöhnlich hohen Hauses entlang, über dem in leuchtenden Buchstaben das Wort ›Hotel‹ prangte. Und das Haus strahlte eine solche Wärme aus, daß die Luft in seiner Nähe zeitweilig nach oben stieg.
Für die Schneeflocke war es natürlich ein mächtiger Spaß, in diesen Luftstrom zu geraten, der sie immer wieder in die Höhe wirbelte und es verhinderte, daß sie auf die .
Straße fiel. Dabei konnte sie die interessantesten Beobachtungen machen. So entdeckte sie hinter einem Fenster der vierten Etage einen Mann und eine Frau, die sich offensichtlich sehr liebten. Sie tauschten jedenfalls Zärtlichkeiten aus, und der Ausdruck ihrer Gesichter ließ erkennen, daß sie glücklich und zufrieden waren.
Gleich unter ihnen aber wohnte ein Paar, das sich mächtig zankte. Er beschimpfte sie, und sie beschimpfte ihn. Und das alles nur, weil einer von ihnen – wer, das konnte die Schneeflocke nicht feststellen – offensichtlich durch Unachtsamkeit eine Vase hatte fallen lassen, deren Scherben am Boden lagen. Ja, das war nun passiert, und der eine war nicht großzügig genug, um über entzweigegangenes Porzellan hinwegsehen zu können, und der andere hatte kein Verständnis dafür, daß man sich im ersten Moment auch einmal aufregen kann. So stritten sich beide, ohne zu bedenken, daß eine zerstörte Vase zu ersetzen ist, eine häßliche Stunde aber nie wieder fortgeschafft werden kann.
Unsere Schneeflocke war daher recht froh, als der warme Luftstrom sie nochmals erfaßte und vor das Fenster des glücklichen Paares trug, das gerade eng umschlungen nach draußen schaute und sich am herrlichen Bild der verschneiten Stadt erfreute.
Aber dann wurde die Schneeflocke von einem Wirbel erfaßt und zur Seite getragen, so daß sie in ein Nebenzimmer schauen konnte, in dem ein Kellner, der einen Tisch deckte, einem Lehrjungen eine schallende Ohrfeige gab, weil dieser heimlich etwas von einer Platte stibitzt hatte, die später serviert werden sollte. Zugegeben, der Kellner mußte den Buben zurechtweisen, der wirkliche Schuldige aber war der Hotelbesitzer, der seinen Angestellten nicht genügend zu essen gab.
Doch zurück zu unserer Schneeflocke, die nach diesem aufregenden Erlebnis unversehens viel schneller als zuvor nach unten sank. Und dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hatte: sie landete auf dem Sims eines Fensters, das weit geöffnet war, und noch bevor sie erkannte, welche Gefahr ihr drohte, strömte die aus dem überheizten Zimmer entweichende Luft über sie hinweg. Da half alles Weinen und Klagen nichts; die Wärme
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