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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. C. Bergius
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zu kommen.«
    Tie-tie schüttelte den Kopf. »Du kannst mir mein Leben nehmen, aber nicht verlangen, daß ich, der ich das Gelübde ablegte, mein Dasein als Einsiedler zu beenden, mich nochmals von irgendwelchen Menschen umarmen, betasten und küssen lasse.«
    Yen-sun kniff die Lider zusammen. »Ist das dein letztes Wort?«
    »Ja. Und nun bitte ich dich, das Huhn zu nehmen und mich zu verlassen.«
    »Einverstanden!« schrie Yen-sun mit sich überschlagender Stimme. »Ich garantiere dir aber, daß ich dem Biest dann auf der Stelle den Hals umdrehen werde! Hier vor deinen Augen! Und anschließend werden wir eine Jagd veranstalten, die zugkräftiger sein wird, als alles bisher von uns Propagierte! Und weißt du, was wir jagen werden? Dein weißes Krokodil!«
    Tie-ties faltenzerfurchtes Gesicht wurde aschgrau.
    Seine Hände zitterten und griffen nach Yen-sun, der sie rücksichtslos zur Seite stieß.
    »Ich denke, daß ich mich klar genug ausgedrückt habe. Wer sich gegen mich stellt, ist mein Feind und wird mit allen Mitteln bekämpft. Überlege also gut, was du tust! Wenn du dich bei unserer nächsten Ankunft nicht unten an der Anlegestelle aufhältst, schaffen wir uns eine neue Attraktion, indem wir das Krokodil abknallen und es ausgestopft am Ufer zur Schau stellen.«
     
     
    Tie-tie hatte vor Entsetzen kein Wort der Erwiderung finden können. Er war wie gelähmt gewesen, und erst nachdem Yen-sun ihn verlassen hatte, begriff er, vor welch teuflische Alternative er gestellt worden war. Es gab keinen Ausweg für ihn: Wenn er das weiße Krokodil retten wollte, mußte er die ihm zugedachte Rolle spielen, gleichgültig, wie es ihm dabei zumute war. Sein Paradies hatte sich in ein Gefängnis verwandelt; er konnte es nur zurückgewinnen, wenn er nicht widerwillig, sondern freudigen Herzens auf sich nahm, was man von ihm verlangte. Bestand nicht auch die Möglichkeit, daß Yen-sun ein Werkzeug des Himmels war? Daß er einer schweren Prüfung unterzogen werden sollte? Kein Tag war vergangen, an dem er nicht darum gefleht hatte, nach diesem Leben von der Wiedergeburt befreit zu werden und in das Nirwana zu gelangen. Es lag doch auf der Hand, daß der Allmächtige seinem Wunsche nicht entsprechen konnte, ohne zuvor festgestellt zu haben, ob er die erforderliche Reife erhalten hatte und die Kraft besaß, Haß mit Güte zu vergelten.
    Tie-ties einfältiges Herz siegte im Widerstreit der Empfindungen. Noch ehe das von Yen-sun gecharterte Motorboot außer Sicht geraten war, ergriff er seine Gebetsmühle, um das schon halb zurückgewonnene Paradies betend zu umwandern.
    Beim Verlassen seiner armseligen Kammer blieb er jedoch wie angewurzelt stehen. Auf dem Boden des Tempels, den er mühsam gescheuert hatte, lagen Apfelsinenschalen, Papierreste und Zigarettenstummel.
    »Om mani padme hum!« rief er entsetzt, doch schon im nächsten Augenblick eilte er mit vor Scham gerötetem Gesicht von einer Stelle zur anderen, um den entwürdigenden Unrat so schnell wie möglich fortzuschaffen.
    Als er später ins Freie trat, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Wohin er blickte, lagen Schachteln, Tragebehälter, Papierservietten, Obstschalen, Konservendosen und Eßreste umher. Der Platz vor der Pagode sah wie ein verlassenes Schlachtfeld aus. Die zur Anlegestelle hinabführende Steintreppe glich einem von Verkaufsständen geräumten, noch ungekehrten Marktplatz. Auf dem See schwammen Kartons, Papierschnitzel und andere Dinge. Die sonst unberührt auf dem Wasser liegenden, fast zwei Meter durchmessenden Blätter der weiß und hellrot blühenden Victoria Regia waren zerfetzt, als wäre eine Horde Lausbuben über sie hergefallen.
    Tie-tie war außer sich. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß zivilisierte Menschen weniger Anstand besitzen als wilde Dschungelbewohner. Empörung erfaßte ihn, bis er sich sagte: Wer seine Mitmenschen zuviel tadelt, begibt sich in Gefahr, sie zu verlieren. Gehe also hin und sorge für Ordnung. Wer in einem Paradies leben will, muß es sich täglich neu erringen.
    Es war erstaunlich, mit welcher Gelassenheit der greise Tie-tie alles auf sich nahm. Ohne Bitterkeit und ohne zu klagen, machte er sich an die Arbeit, und als diese am folgenden Abend beendet war, setzte er sich zu ›Ting‹ und erzählte ihr, welch schönem Leben sie entgegengehe, da sie außer der neuen Gefährtin, die mit dem nächsten Schiff ankomme, in Zukunft allwöchentlich die leckersten Abfälle erhalten werde. Und nicht nur für sie, auch

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