Das Weltgeheimnis (German Edition)
sofort in seine Forschungen einfließen lässt, löst auch die Erfindung des Fernrohrs einen Schaffensrausch bei ihm aus. Galileis Entdeckungen inspirieren ihn zu neuen gedanklichen Höhenflügen.
»Sehen heißt, die Reizung der Netzhaut fühlen«
Kepler tut alles dafür, um seine eigenen Forschungen mit denen seines italienischen Kollegen zu verbinden. Nachdem er einen ausführlichen und viel gelesenen Kommentar zum Sternenboten geschrieben hat, widmet er sich ganz den neuen Vergrößerungsgläsern, deren Potenzial er zunächst nicht erkannt hatte. Er testet verschiedene Linsen und erprobt deren grundsätzliche Eigenschaften. Den ganzen Frühling und Sommer 1610 arbeitet er an einem Lehrbuch über Linsen, Brillen und Fernrohre, damit »sich fähige junge Leute und andere Jünger der Mathematik anreizen lassen, die Wirkungsweise dieser Instrumente« zu verstehen.
Bis dahin ist niemand auf die Idee gekommen, dass es noch viele andere Möglichkeiten geben könnte, optische Vergrößerungsinstrumente zu bauen. Kepler kombiniert systematisch konkave und konvexe Linsen miteinander und erläutert, wie sich Lichtstrahlen darin ausbreiten. Er beschreibt die Wirkungsweise des von Galilei benutzten Fernrohrs und entwirft eine Reihe neuer Apparaturen, darunter die Linsenanordnung für das Teleobjektiv und das »keplersche Fernrohr« aus zwei Konvexlinsen, das Galileis Konstruktion später ablösen wird.
Solche Erfindungen bilden den harten Kern seiner Dioptrik . Noch faszinierender aber ist die Gesamtkonzeption seiner Schrift. Keplers grundlegender Gedanke lautet: Von jedem Körper, ob er nun selbst leuchtet oder angestrahlt wird, geht ein ganzes Bündel von Lichtstrahlen aus. Diese Strahlen werden beim Übergang in jedes neue Medium gebrochen. So kommt zum Beispiel das Sonnenlicht von seinem ursprünglichen Kurs ab, wenn es in die Erdatmosphäre eindringt, wenn es auf Glas trifft, auf die Hornhaut oder Linse des menschlichen Auges.
Ausgehend von dieser These entwirft er eine Theorie des Sehens, in der er sich auf anatomische Studien des aus Basel stammenden Mediziners Felix Plater stützt. Kepler zufolge ist die Netzhaut der sehende Teil des Auges und nicht die Linse, der »Humor crystallinus«, wie etwa die angesehenen Universitätsmediziner in Padua vermuten. Erst auf der Netzhaut überlagern sich die durch die Pupille einfallenden Lichtstrahlen zu einem umgekehrten Bild.
»Die Netzhaut wird bemalt von den farbigen Strahlen der sichtbaren Welt«, so Kepler. »Diese Bemalung oder Illustrierung ist mit einer nicht bloß oberflächlichen Veränderung der Netzhaut verknüpft, … sondern mit einer qualitativen, in die Substanz und den Sehstoff eindringenden. Dies leite ich aus der Natur des Lichtes her, das, wenn es stark und konzentriert ist, eine Brennwirkung ausübt.« Das ankommende Licht ruft Veränderungen der Retina hervor, die ans Gehirn weitergeleitet werden. »Sehen heißt, die Reizung der Netzhaut fühlen.«
Kepler beschreibt den Strahlengang und den Sehprozess in einer für seine Zeit unvergleichlichen Weise. Sein Lehrbuch zur Optik ist ein weiterer Beleg dafür, wie phantasievoll und kreativ er auf Anregungen von außen reagiert. Dominiert bei vielen Forschern die Skepsis, widmet er sich den Neuigkeiten mit echtem Interesse und nimmt die Erfindung des Fernrohrs zum Anlass, nach einer schlüssigen Erklärung für die Funktionsweise der seit Jahrhunderten verwendeten Linsen und Brillen zu suchen. Auch seine eigene Kurzsichtigkeit, deretwegen er ferne Objekte doppelt oder dreifach sieht und statt des einen Mondes manchmal »zehn oder mehr«, macht er zum Forschungsgegenstand.
Bei Kurzsichtigen liegt der Punkt, in dem sich die von Hornhaut und Linse gebündelten Lichtstrahlen treffen, zu weit vorn. Nachdem sich die Strahlen dort geschnitten haben, schreibt Kepler, laufen sie schon wieder auseinander, ehe sie auf die Netzhaut fallen. Daher reizen sie ein größeres Areal auf der Netzhaut und nicht nur einen Punkt. Durch ein konkaves Brillenglas kann der Brennpunkt jedoch nach hinten verschoben werden, so dass das Bild auf der Netzhaut wieder scharf wird.
Für die Lichtbrechung selbst findet er nur eine Näherungsformel. Seine experimentellen Daten sind nicht so gut wie die des Briten Thomas Harriot, mit dem er eine Weile in Briefkontakt gestanden hat, der die Ergebnisse seiner Studien aber lieber für sich behält.
Keplers Erkenntnisse auf dem Gebiet der Optik zählen zu seinen herausragenden Leistungen.
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