Das Weltgeheimnis (German Edition)
Jahrzehnte später, obschon sich auch aus seinen Planetengesetzen konkrete Vorhersagen ableiten lassen. Die Stärke der keplerschen Theorie liegt gerade darin, dass sie nicht nur Tycho Brahes Daten richtig wiedergibt – das wäre auch mit den alten Kreisfiguren möglich gewesen –, sondern dass ihr Horizont größer ist als der aller existierenden astronomischen Beobachtungen.
Allerdings kommt Kepler nicht darauf, dass auch Kometen in Ellipsenbahnen um die Sonne ziehen könnten. Er hält sie für kurzlebige Himmelskörper. Stattdessen riskiert er eine andere Prognose, und zwar für den Planeten Merkur, an dem später auch Einstein seine eigene Theorie prüfen wird.
Die Bahn des kleinsten, sonnennächsten Planeten ist sehr schwer zu bestimmen. Gestützt auf seine Ellipsentheorie, sagt Kepler voraus, der Planet werde zu einem bestimmten Zeitpunkt als dunkler Fleck an der Sonnenscheibe vorbeiziehen. Tatsächlich beobachtet der französische Astronom Pierre Gassendi 1631, wie sich Merkur exakt zu dem ermittelten Termin vor die Sonne schiebt. Der kleine schwarze Punkt bestätigt Keplers Planetengesetze bestens. Eine Feuerprobe wie im Falle Einsteins? Wohl kaum. Es herrscht Krieg, und für den winzigen Merkur interessiert sich niemand. Außerdem lebt Kepler zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Er ist im Jahr zuvor gestorben.
Zu Lebzeiten erntet er für seine elliptische Theorie nicht den ihm gebührenden Beifall. Und das, obschon er sich auf das Lebenswerk Tycho Brahes hat stützen können, auf die seinerzeit besten Messungen der Planetenpositionen.
Als astronomischer Beobachter war Brahe eine Ausnahmeerscheinung, in Dänemark hatte er das Observatorium Uraniborg mit riesigen, extrem kostspieligen Instrumenten betrieben. Doch gerade das ist die Crux. Während das Fernrohr vergleichsweise leicht nachzubauen ist und sich innerhalb kurzer Zeit viele Forscher mit eigenen Augen von der Existenz der von Galilei entdeckten Jupitermonde überzeugen können, sind Brahes Präzisionsmessungen einzigartig. Ein zweites Uraniborg ist nicht in Sicht. Woher sollte also ein weiterer, gleichwertiger Datensatz kommen, mit dem die geringfügige Abweichung der Marsbahn von der Kreisform ans Licht gebracht werden könnte?
Wegen der extrem hohen Anforderungen an die Technik ist es de facto niemandem möglich zu prüfen, ob sich die Planeten auf den von Kepler berechneten Ellipsenbahnen um die Sonne bewegen oder nicht. Durch die Verdienste Brahes und seine eigene grandiose Einzelleistung hat er sich vom Rest der Forschung abgekoppelt. Ihm fehlt ein prominenter Skeptiker wie Christopher Clavius, der Galileis Entdeckungen anfangs zwar müde belächelt, sie aber schließlich doch vor einem erlesenen Publikum in Rom feierlich bestätigt. Oder ein Widersacher wie Giovanni Antonio Magini in Bologna, der die Jupitermonde zuerst als optische Täuschungen hinstellt, dann selbst zum Fernrohr greift und Galilei dadurch noch stärker macht.
Obschon Magini Keplers Neue Astronomie aufmerksam liest, ist er vor allem auf Brahes Daten erpicht. Der Mathematiker aus Bologna beneidet Kepler um das Privileg, auf das reiche Erbe des Dänen zugreifen zu können, und schaut sich das Buch in erster Linie daraufhin an, ob er die darin angegebenen Messdaten für eigene Forschungen verwenden kann.
Keplers Theorie als solche erscheint ihm von vorneherein völlig unglaubhaft. Denn für Magini und viele andere namhafte Astronomen an der Schwelle zum 17. Jahrhundert ist es eine ausgemachte Sache, dass der Globus im Mittelpunkt des Kosmos ruht und dass sich die Planeten auf Kreisbahnen bewegen. Mit seiner Planetentheorie ist Kepler seiner Zeit zu weit voraus. Er hat bereits den zweiten Schritt gemacht und das kopernikanische System in eine neue, mathematisch wenig vertraute Form gegossen – und das, während den meisten seiner Kollegen schon die Hypothese von einer bewegten Erde absurd vorkommt. Ist damit der Weg in seine zunehmende Isolation als Forscher bereits vorgezeichnet?
Die Ereignisse nach Galileis Fernrohrbeobachtungen sprechen eine ganz andere Sprache. Trotz der fehlenden Resonanz auf sein astronomisches Hauptwerk ist das Jahr 1610 noch einmal eines seiner produktivsten Forscherjahre, auf internationaler Bühne ist er so sichtbar wie nie zuvor.
Weil Kepler ein Forscher ist, der Neuigkeiten aus der Wissenschaft phasenweise wie Drogen aufnimmt, der originelle Rechenverfahren wie Logarithmen oder physikalische Messungen wie die des Magnetfelds der Erde
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