Das Weltgeheimnis (German Edition)
»Johannes Kepler hat das alte Rätsel, wie denn das Auge die Bilder der sichtbaren Dinge aufnehme, gelöst«, so der Medizinhistoriker Huldrych M. Koelbing. Die Gabe genialer Intuition habe ihn dazu gebracht, bisher dunkle Sachverhalte zu durchschauen und auf einfache Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen. »Er war der Erste, der das Auge als optisches Instrument richtig verstand.«
Allerdings greifen zunächst nur wenige Augenärzte oder Astronomen wie Christoph Scheiner seine Theorie auf. Und die dahinterliegende mathematische Theorie bauen Forscher erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aus, unter ihnen Christian Huygens und Isaac Newton.
Ein unvorhergesehener Brückenschlag
Motiviert durch Galileis Entdeckungen, schreibt Kepler die Dioptrik binnen weniger Monate nieder. Im Vorwort spricht er dem Kurfürsten Ernst von Köln seinen Dank aus, der ihm Anfang September 1610 eines von Galileis Fernrohren für die Beobachtung der Jupitermonde zur Verfügung gestellt hat – eine von vielen zufälligen Begegnungen am Hof, von denen Kepler allerdings nicht mehr lange profitieren kann. Der sich zuspitzende Streit des Kaisers mit seinem Bruder wird in Kürze in einen Krieg einmünden.
Ernst von Köln und andere Reichsfürsten tagen schon seit dem Frühjahr in Prag. Als Botschafter reisen sie zwischen der kaiserlichen Residenz und Wien hin und her, um zwischen Rudolf II. und seinem Bruder Matthias zu vermitteln. Die beiden verfeindeten Habsburger sind nur schwer an den Verhandlungstisch zu bringen, eine Einigung zwischen ihnen scheint in wesentlichen Punkten unmöglich.
Die Nachfolge im Hause Habsburg ist zum Beispiel völlig ungeklärt. Rudolf II. hat nie geheiratet. Vergeblich haben sich seine Familie, seine politischen und geistlichen Berater darum bemüht, eine Ehe mit Isabella von Spanien einzufädeln. Achtzehn Jahre lang hat der Kaiser die spanische Infantin hingehalten und sich anschließend genauso wenig zu einer Vermählung mit der reichen Medici-Erbin Maria de’ Medici, der schönen Julia d’Este, der Erzherzogin Anna von Tirol oder der Prinzessin Margarethe von Savoyen entschließen können. Er hat um sie werben, Bilder von ihnen malen und in seiner reichen Kunstgalerie aufhängen lassen – vergnügt hat er sich mit anderen Frauen. Ein abwechslungsreiches Liebesleben hat ihm schon immer mehr bedeutet als der Fortbestand der Dynastie.
Weil er die Krone aber auch nach seinem Tod nicht an den Bruder weitergeben will, fasst Rudolf II. mal seinen Vetter, den Erzherzog Leopold, als Thronfolger ins Auge, mal teilt er den Fürsten mit, doch noch heiraten zu wollen, um seinen Erstgeborenen zum Kaiser zu machen.
Im Oktober 1610 kommt es dennoch zu einer Art Friedensvertrag. Rudolf II. tritt die längst an seinen Bruder gefallenen Länder offiziell an diesen ab, Matthias erklärt, künftig keine Allianzen mehr gegen den Kaiser zu schließen. Außerdem verpflichten sich beide Seiten zur Abrüstung. Ihre Soldaten sollen laut Vertrag »binnen Monatsfrist« entlassen werden.
Der Kaiser treibt sein undurchsichtiges Spiel weiter. Entgegen der Vereinbarung löst Rudolf II. das Söldnerheer nicht auf, das Erzherzog Leopold, Bischof von Passau, in seinem Auftrag angeheuert hat. Er zögert die Sache so lange hinaus, bis die 12 000 Mann starke Armee am 21. Dezember 1610 die Grenze zu Österreich überschreitet. Angeblich hat Rudolf II. kein Geld, um die Landsknechte auszubezahlen. Nun werden sie von ihren Offizieren aus dem Bistum Passau, in dem es wirklich gar nichts mehr zu holen gibt, herausgeführt und dahin gelotst, wo sie sich auf eigene Faust das nehmen, was sie brauchen.
Der abenteuerliche Zug der Passauer Armee führt in den nächsten Monaten bis hinauf nach Böhmen. Wie Heuschrecken fallen Reiterei und Fußvolk über Höfe und Ortschaften her, fressen ganze Landstriche kahl, misshandeln die Bauern, schänden ihre Frauen, verbreiten Krankheiten und jene Schrecken, die auch der Bevölkerung von Böhmens Hauptstadt noch bevorstehen.
Vorerst ahnt in Prag noch niemand, dass der Tross in Kürze hier einfallen wird. Kepler wohnt mit seiner Familie nur wenige Schritte von der Karlsbrücke entfernt. Die fünfhundert Meter lange Steinbrücke ist die einzige Verbindung zwischen der Prager Altstadt und der gegenüberliegenden Seite der Moldau. Ein mächtiger Brückenturm, der im Ernstfall verriegelt werden kann, sichert die Altstadt und mit ihr das Kepler’sche Wohnhaus, wo der Astronom ein kleines Observatorium
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