Das Weltgeheimnis (German Edition)
nur hin und wieder die Sternbilder am Nachthimmel anzuschauen. Sie sehen immer gleich aus. All die Sterne, die mit bloßem Auge zu sehen sind, behalten ihre relativen Positionen zueinander über Jahre und Jahrhunderte bei. Es entsteht der Eindruck, als wären sie alle miteinander an einer sich drehenden Himmelskugel festgeheftet und deshalb an Kreisbahnen gebunden.
In dieser scheinbar unverrückbaren Ordnung tanzen bei genauerem Hinsehen lediglich ein paar Wandelsterne, die Planeten, aus der Reihe. Aber das ändert nichts an dem überwältigenden Gesamteindruck. Die griechischen Naturphilosophen stellten sich den Kosmos als eine Kugel vor. Den Planeten, dem Mond und der Sonne wiesen sie dagegen jeweils eigene, gleichmäßig rotierende Kristallkugeln zu.
Das Bild der ruhenden Erde und der um sie herum rotierenden Sphären warf viele Fragen für die Physik auf. Welche Wechselwirkung gibt es zwischen den Sphären? Wie treiben sie sich gegenseitig an? Noch größere Herausforderungen aber, die dieses Weltmodell an die Wissenschaft stellte, kamen aus den Bereichen der Astrologie und der Seefahrt. Zur Navigation auf See, für eine präzise Ankündigung von Mondfinsternissen oder anderen Himmelsereignissen taugte das Modell nur bedingt. Man brauchte dafür differenzierte Rechenverfahren.
Apollonius von Perge war einer jener Mathematiker, die der Himmelskunde das dazu nötige Handwerkszeug bereitstellten. Im dritten Jahrhundert vor Christus wies er nach, dass sich jede geschlossene Kurve, und damit jede beliebige Planetenbewegung, mathematisch gesehen auf das Zusammenspiel verschiedener Kreise zurückführen lässt, nämlich auf Trägerkreise und Epizyklen, die ähnlich miteinander verzahnt sind wie die Räder in einem Uhrwerk.
Bis zu Keplers Zeit tauchen derartige Kreismodelle in immer neuen Spielarten auf. Auch Tycho Brahe schwört auf sie und gibt seinem Nachfolger den wohlgemeinten Rat: »Man muss die Umläufe der Gestirne durchaus aus Kreisbewegungen zusammensetzen. Denn sonst könnten sie nicht ewig gleichmäßig und einförmig in sich zurückkehren, und eine ewige Dauer wäre unmöglich, abgesehen davon, dass die Bahnen weniger einfach und unregelmäßiger wären und ungeeignet für eine wissenschaftliche Behandlung.«
Im Nachhinein wirkt Brahes eindringlicher Appell wie eine Vorahnung dessen, wozu sein Assistent einmal fähig sein würde: die Jahrtausende alte mathematische Sprache der Astronomie von Grund auf zu verändern. Das aber ist keineswegs Keplers erklärte Absicht. Er benutzt zunächst dieselben geometrischen Methoden wie seine Vorgänger. Trotzdem sind es ausgerechnet Brahes Daten, die ihn zur Erneuerung der Astronomie führen. Brahe stellt sogar noch die entscheidenden Weichen, indem er seinem übereifrigen Assistenten Zügel anlegt. Statt gleich den ganzen Kosmos in Angriff zu nehmen, solle sich Kepler zunächst ganz auf einen einzigen Planeten konzentrieren: den Mars.
Erbe verpflichtet
Im Oktober 1601 stirbt Brahe. Seinem Tod war ein allzu üppiges Gelage beim Grafen von Rosenberg vorausgegangen. Kepler zufolge hat Brahe trotz starken Harndrangs die Tafel nicht verlassen wollen und danach Fieber bekommen. Es heißt, er sei einem Blasenverschluss zum Opfer gefallen. So rückt Kepler im Alter von dreißig Jahren überraschend auf einen der begehrtesten Posten für Mathematiker seiner Zeit auf. Kaiser Rudolf II. überträgt ihm die Sorge für Brahes unvollendete Arbeiten.
So enthusiastisch Kepler sonst ist – diesmal hält sich seine Begeisterung in Grenzen. Er hat erlebt, wie der berühmte Brahe nach großen Versprechungen seitens des Kaisers um sein Gehalt betteln musste. Er selbst verbringt zwei geschlagene Monate mit »Antichambrieren«, ehe er sein erstes Geld als kaiserlicher Mathematiker bekommt.
Außerdem gibt es sofort Streit um Brahes astronomische Jahrbücher und seine Himmelsaufzeichnungen. Vieles darin dufte nach Ambrosia, hält Kepler fest. Dennoch kann er seine Arbeit nicht gleich beginnen. Die Rechte an dem Lebenswerk des akribischen Beobachters liegen nämlich bei Brahes Familie, der der Kaiser den Nachlass abkaufen möchte, ohne das Geld dafür locker zu haben. Die Erben fordern eine astronomische Summe dafür.
Kepler gerät zwischen die Fronten. Seine Hauptaufgabe, die ihm zwischenzeitlich wieder entzogen wird, besteht darin, die Rudolfinischen Tafeln herauszugeben, einen von sämtlichen Astronomen sehnlich erwarteten Himmelskatalog, mit dem er sich noch bis 1627 herumquälen
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