Das Weltgeheimnis (German Edition)
tragen will, das, wie schon sein erstes Kind, bald nach der Geburt an einer Hirnhautentzündung gestorben ist, wird ihm eine deftige Strafe aufgebrummt. »Wer auf dem Friedhof das Trauergeleite zum Beten auffordert, wer einem Sterbenden Trost bringt, verfehlt sich auf Schwerste und gilt als Unruhestifter«, schreibt Kepler über die Schikanen. »Wer nach dem Geheiß Christi das Abendmahl empfängt, wer evangelische Predigten besucht, hat ein Majestätsverbrechen begangen. Wer Choräle in der Stadt singt, wer die Bibel Luthers liest, verdient aus dem Stadtgebiet verbannt zu werden.«
In seiner Verzweiflung fragt er sich, ob er wirklich auf seine Frau und ihr Vermögen größere Rücksicht nehmen dürfe als darauf, zu erfüllen, wozu ihn Natur und Lebensgang bestimmt hätten? Denn welches Schicksal ihn anderswo auch erwarte, es könne nicht schlimmer sein als das, was ihm in Graz bevorstünde.
»Inzwischen werden Kirchen, die vor wenigen Jahren erbaut wurden, zerstört«, schreibt er Mästlin im Herbst 1599. »Die Bürger in den Städten, die gegen den Befehl des Fürsten Diener der Kirche beherbergen, werden mit Waffengewalt zum Gehorsam gezwungen … Ich spähe überall nach einer Gelegenheit aus, wie ich ohne Kosten nach Prag zu Tycho gelangen kann, wo ich vielleicht nach einem Besuch bei ihm Gelegenheit finden werde, mich auf die Wahl eines Wohnorts zu besinnen.«
Die Begegnung mit Tycho Brahe
Schließlich findet sich eine Möglichkeit. Ein Hofrat Rudolfs II. nimmt Kepler mit nach Prag, wo Brahe ein halbes Jahr zuvor seine Arbeit aufgenommen hat. Der Kaiser hat dem dänischen Mathematiker ein Einkommen von 3000 Gulden zugesagt, mehr als jedem seiner Hofbeamten. Um eine neue Sternwarte zu gründen, hat ihm Rudolf II. sogar drei Schlösser zur Auswahl gestellt – Wissenschaftsförderung vom Feinsten!
Kepler sucht den über fünfzigjährigen Astronomen – einen kräftigen Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart – im Januar 1600 in seiner entstehenden Sternwarte auf. Ihre Begegnung wird zu einem der glücklichsten Zusammentreffen in der Geschichte der Astronomie, Kepler selbst spricht von Vorsehung. Durch »göttliche Fügung« sei es ihm erlaubt worden, Tychos Beobachtungen zu benutzen.
Er erreicht Schloss Benatek zu einem Zeitpunkt, als die Umbauarbeiten in vollem Gange sind. An ein ruhiges Arbeiten ist kaum zu denken, doch Brahe sucht bereits händeringend nach fähigen Assistenten. Seinen langjährigen dänischen Mitarbeiter Christian Sörensen Longberg hat er gewinnen können, aber vom angeheuerten Christoph Rothmann fehlt jede Nachricht. Auf den Brandenburger Johann Müller wartet er noch, ebenso auf David Fabricius aus Ostfriesland – beide werden nur kurz in Prag bleiben.
Wie Kepler rasch bemerkt, fehlt dem Team ein Architekt, der die Beobachtungen und das reiche Material zusammenführt. Dabei denkt er natürlich an sich selbst. Für Brahe ist der Neuankömmling aber erst einmal nur ein Aspirant unter vielen.
Aus Keplers Vorhaben, sein Weltgeheimnis anhand der neuesten Messwerte zu bestätigen, wird erst einmal nichts. Nur beim Mittagessen wirft ihm Brahe ab und an ein paar Daten hin, »heute das Apogäum des einen, morgen die Knoten eines anderen Planeten«. Diese Häppchen bringen ihn nicht weiter. Seine Nerven werden womöglich auch durch die bissigen Kommentare von Brahes ständigem Begleiter bis aufs Äußerste gereizt, dem Zwergen Jepp, der beim Essen unter dem Tisch sitzt und unentwegt vor sich hin brabbelt. Brahes Mitarbeiter Longberg zufolge besitzt Jepp hellseherische Fähigkeiten, spielt aber wohl vor allem die Rolle eines Hofnarren.
Kepler empfindet die ganze Geheimhaltung von Daten in der Forschung als unredlich, sie stehe dem Fortschritt im Weg – ein bis heute viel diskutiertes Thema. Als »Übel für unsere Wissenschaft« bezeichnet er Brahes Verhalten in einem Brief an Giovanni Antonio Magini. Der Mathematikprofessor aus Bologna ist mit Brahe befreundet. Kepler, der nicht an sich halten kann, seine Gedanken »den Meistern der Wissenschaft mitzuteilen, damit ich durch ihre Hinweise sogleich in unserer göttlichen Kunst voranschreite«, trifft auch Magini gegenüber nicht den rechten Ton. Mit den Gepflogenheiten in der Gelehrtenwelt ist er immer noch nicht vertraut, seine Lehrjahre sind längst nicht abgeschlossen.
Die kurze Zusammenarbeit mit Tycho Brahe ist in vieler Hinsicht prägend für sein Fortkommen als Wissenschaftler. Brahe macht ihn mit neuen mathematischen Methoden vertraut
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