Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
Monaten nach seiner Abreise genächtigt hatte. Sie betrachtete den Koffer. Er war etwa zwei Fuß lang, anderthalb Fuß breit und sechs Zoll tief: ein schmuckloser Quader aus billigem honigfarbenem Leder. Er war verbeult, zerkratzt und schäbig. Der Griff war gleich mehrfach mit Draht und Schuhriemen geflickt. Die Beschläge waren von der Salzluft und den Jahren angelaufen. Oberhalb des Griffs erkannte man gerade noch die eingeprägten Initialen: »A . P.«. Zwei Lederriemen waren um den Koffer geschlungen und hielten ihn so fest umschlossen wie zwei Sattelgurte den Bauch eines Pferdes.
Ein Schloss war nicht vorhanden, was Ambrose ganz und gar entsprach. Er besaß so ein vertrauensvolles Wesen – oder hatte es zu Lebzeiten besessen. Hätte der Koffer ein Schloss gehabt, Alma hätte ihn womöglich gar nicht geöffnet. Vielleicht hätte es ja nur eines winzigen Anzeichens von Geheimniskrämerei bedurft, um sie zurückzuhalten. Vielleicht aber auch nicht. Alma war von Natur aus so veranlagt, den Dingen auf den Grund zu gehen, ungeachtet aller Konsequenzen, selbst wenn dazu ein Schloss aufgebrochen werden musste.
Sie öffnete den Koffer ohne Schwierigkeiten. Darin lag sorgfältig gefaltet eine Jacke aus braunem Cord, die sie sofort erkannte und deren Anblick ihr unwillkürlich die Kehle zuschnürte. Sie nahm die Jacke heraus und drückte sie ans Gesicht, in der Hoffnung, noch etwas von Ambrose in dem Stoff zu riechen, doch sie erschnupperte nur einen leicht modrigen Geruch. Unter der Jacke fand sie einen dicken Stapel Papier: Skizzen und Zeichnungen auf breiten, grobkörnigen, eierschalenfarbenen Bögen. Die oberste Zeichnung zeigte einen tropischen Schraubenbaum, anhand der spiralförmig angeordneten Blätter und des schweren Wurzelwerks klar zu identifizieren. Ambroses großes botanisches Geschick offenbarte sich darin, gewohnt präzise bis in die kleinste Einzelheit. Es war nur eine Bleistiftzeichnung, und doch war sie prachtvoll. Alma betrachtete sie und legte sie dann beiseite. Unter der Zeichnung lag eine weitere – das Detail einer Vanilleblüte, mit Tusche gezeichnet und so zart koloriert, dass sie beinahe auf dem Blatt zu schweben schien.
Alma spürte Zuversicht in sich aufkeimen. Dann enthielt der Koffer also Ambroses botanische Impressionen aus der Südsee. Das war ihr in vielfacher Hinsicht ein Trost. Zum einen hieß es, dass Ambrose auch auf Tahiti Zuflucht in seiner Kunst gefunden hatte und nicht nur in träger Verzweiflung dahingesiecht war. Und zum anderen würde Alma, nun, da sich diese Blätter in ihrem Besitz befanden, wieder etwas von Ambrose haben: etwas Wunderschönes, Greifbares, das sie an ihn erinnerte. Und nicht zuletzt öffneten die Zeichnungen ihr ein Fenster auf seine letzten Lebensjahre: Sie würde sehen können, was er gesehen hatte, so als würde sie mit seinen Augen darauf blicken.
Die dritte Zeichnung zeigte eine Kokospalme, schlicht und rasch hingeworfen, unvollendet. Doch die vierte Zeichnung ließ Alma stocken. Sie zeigte ein Gesicht. Das überraschte, denn Ambrose hatte, soweit Alma wusste, nie Interesse an Darstellungen der menschlichen Gestalt gezeigt. Er war kein Porträtzeichner und erhob auch keinen Anspruch darauf. Und doch war dies ein Porträt, mit Feder und Tusche gezeichnet von Ambroses akkurater Hand. Es zeigte den Kopf eines jungen Mannes von rechts im Profil. Die Züge deuteten auf polynesische Herkunft hin. Breite Wangenknochen, eine flache Nase, volle Lippen. Stark und attraktiv. Das Haar jedoch war kurz geschnitten, nach Art der Europäer.
Alma betrachtete die nächste Zeichnung: ein weiteres Porträt desselben jungen Mannes, diesmal von links im Profil. Das nächste Blatt zeigte einen männlichen Arm. Er gehörte nicht Ambrose. Die Schulter war breiter, der Unterarm kräftiger. Danach folgte die detaillierte Darstellung eines menschlichen Auges. Es gehörte nicht Ambrose (Alma hätte sein Auge überall erkannt). Es gehörte jemand anderem, die Wimpern waren dicht und fedrig.
Dann folgte die Ganzkörperstudie eines jungen Mannes, ein Akt von hinten, während er sich scheinbar vom Künstler entfernte. Der Rücken war breit und muskulös. Jeder Wirbel war aufs Sorgfältigste wiedergegeben. Ein zweiter Akt zeigte den jungen Mann an eine Kokospalme gelehnt. Sein Gesicht war Alma nun bereits vertraut: dieselbe stolze Stirn, dieselben vollen Lippen, dieselben mandelförmigen Augen. Hier wirkte er ein wenig jünger als auf den anderen Zeichnungen – kaum mehr als ein
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