Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
hätte er das tun sollen? Irgendwer hätte sicherlich geplaudert. Sie waren doch ständig zusammen gewesen, Alma und Ambrose, und derart schlüpfrige Geheimnisse blieben nie lange verborgen. Ein Geheimnis ist eine Währung, die dem Besitzer Löcher in die Tasche brennt und schließlich unweigerlich ausgegeben werden muss. Und doch hatte kein Mensch ein Wort gesagt.
    Hatte Hanneke davon gewusst?, fragte sich Alma, während sie die alte Hauswirtschafterin betrachtete. Hatte sie Ambrose deshalb so abgelehnt? Wir kennen ihn nicht , das hatte sie ein ums andere Mal gesagt …
    Und wie stand es mit Daniel Tupper aus Boston, Ambroses engstem Freund? War er mehr als nur ein Freund gewesen? Das Telegramm, das er zur Hochzeit geschickt hatte: GUT GEMACHT PIKE – war das womöglich ein anzüglicher Code gewesen? Aber Daniel Tupper, erinnerte sich Alma, war ein verheirateter Mann mit einem Stall voller Kinder. Zumindest hatte Ambrose das behauptet. Was aber letztlich auch keine Rolle spielte. Offenbar konnte ein Mensch ja vieles sein und alles gleichzeitig.
    Und seine Mutter? Hatte Mrs Constance Pike davon gewusst? Hatte sie das gemeint, als sie schrieb: »Betet man doch dafür, dass ihn eine geeignete Heirat davon heilen wird, die Moral pflichtvergessen beiseitzuschieben«? Warum hatte Alma den Brief damals nicht aufmerksamer gelesen? Warum hatte sie nicht weiter nachgeforscht?
    Wie hatte ihr das bloß entgehen können?
    Nach dem Abendessen durchmaß sie rastlos ihr Zimmer. Sie fühlte sich versehrt und erschüttert. Überschwemmt von Neugier und blankgewetzt von Zorn. Sie konnte nicht anders, sie kehrte in die Remise zurück und betrat das Atelier, das sie vor über drei Jahren so sorgsam (und kostspielig) für Ambrose eingerichtet hatte. Alle Maschinen und auch die Möbel waren inzwischen unter Laken verschwunden. Alma zog noch einmal Ambroses Notizbuch aus der obersten Schublade seines Schreibtischs. Sie schlug wahllos eine Seite auf und las ein Stück der vertrauten, mystischen Faseleien:
    Bis auf den GEIST existiert nichts, und dieser wird angetrieben von KRAFT … Den Tag nicht verdunkeln, nicht erglitzern in Wankelmut … Hinfort mit dem Äußeren, hinfort damit!
    Sie klappte das Buch zu und stieß einen abfälligen Laut aus. Kein weiteres Wort ertrug sie mehr davon. Warum konnte sich dieser Mann nicht einmal klar äußern?
    Sie kehrte in ihr Studierzimmer zurück und zog den Koffer unter dem Diwan hervor. Diesmal besah sie sich den Inhalt genauer. Es war keine angenehme Aufgabe, doch sie spürte, dass es unvermeidlich war. Sie tastete die Winkel des Koffers ab, auf der Suche nach einem Geheimfach oder irgendetwas anderem, das sie vielleicht beim ersten Mal übersehen hatte. Sie durchstöberte die Taschen von Ambroses altersschwacher Jacke, fand jedoch nur einen Bleistiftstummel darin.
    Dann wandte sie sich wieder den Bildern zu – den drei kunstvollen Pflanzendarstellungen und den Dutzenden obszöner Zeichnungen des immergleichen schönen jungen Mannes. Sie fragte sich, ob sie bei einer genaueren Sichtung nicht vielleicht zu einem anderen Schluss kommen würde – doch nein: Die Porträts waren einfach zu freizügig, zu sinnlich, zu intim. Sie ließen sich nicht anders deuten. Alma drehte eine der Aktzeichnungen um und sah, dass auf der Rückseite etwas stand, in Ambroses schöner, eleganter Handschrift. Ganz klein unten in der Ecke, wie eine unauffällige Signatur. Doch es war keine Signatur. Es waren nur zwei Wörter, beide klein geschrieben: tomorrow morning , »morgen früh«.
    Alma drehte eine weitere Aktzeichnung um und sah auch hier, in der rechten unteren Ecke, dieselben Wörter: tomorrow morning . Nacheinander drehte sie jede einzelne Zeichnung um. Und auf jeder einzelnen stand dasselbe, in der immergleichen eleganten, vertrauten Handschrift: tomorrow morning , tomorrow morning , tomorrow morning …
    Was sollte das nun wieder heißen? Musste denn wirklich alles erst dechiffriert werden?
    Alma nahm ein Blatt Papier und zerlegte die beiden Wörter in ihre einzelnen Buchstaben, bildete andere Ausdrücke und Satzteile daraus:
    Ringt Norm Moor wo?
    Gnom worin? Rom Ort?
    Trog wir Mono Norm.
    Nichts davon ergab einen Sinn. Und es brachte auch keine Erleuchtung, die englischen Wörter ins Französische, Holländische, Lateinische, Griechische oder Deutsche zu übersetzen. Es half nichts, sie rückwärts zu lesen oder ihnen die Zahlen ihrer Stellung im Alphabet zuzuweisen. Möglicherweise war es ja gar kein Code.

Weitere Kostenlose Bücher