Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
brüllen, damit er überhaupt begriff, was vorgefallen war.
»Na, das war das«, sagte er und schloss die Augen wieder.
Sie erzählte es auch Hanneke de Groot, die die Lippen schürzte, die Hände an die Brust drückte und nur »Gott!« sagte – ein Wort, das auf Holländisch genauso klang wie auf Englisch.
Alma schrieb einen Brief an George Hawkes, um ihm zu erklären, was sich ereignet hatte, und ihm dafür zu danken, dass er Ambrose so freundlich empfangen hatte und sein Andenken durch das wunderbare Orchideenbuch in Ehren gehalten wurde. George reagierte postwendend mit einem Schreiben voll liebevoller Anteilnahme und höflicher Betroffenheit.
Wenig später erhielt Alma einen Brief von ihrer Schwester Prudence, in dem sie ihr Beileid bekundete. Alma wusste nicht, wer Prudence von Ambroses Tod erzählt hatte. Sie fragte auch nicht danach. Sie antwortete Prudence mit einem Dankesschreiben.
Reverend Francis Welles schrieb sie einen Brief, den sie mit dem Namen ihres Vaters unterzeichnete, dankte ihm für die Übermittlung der traurigen Nachricht vom Tod seines hochgeschätzten Angestellten und erkundigte sich, ob die Familie Whittaker sich ihm gegenüber auf irgendeine Weise erkenntlich zeigen könne.
Auch an Ambroses Mutter schrieb sie und zitierte das Schreiben des Reverend Francis Welles Wort für Wort. Sie scheute sich, den Brief abzuschicken. Schließlich wusste sie, dass Ambrose der Liebling seiner Mutter gewesen war, ungeachtet dessen, was Mrs Pike seine »irrigen Vorstellungen« nannte. Und wie auch nicht? Ambrose war doch jedermanns Liebling. Mrs Pike würde an der Nachricht zerbrechen. Und schlimmer noch: Alma konnte sich des Gefühls nicht erwehren, den Lieblingssohn dieser Frau in den Tod geschickt zu haben – den Besten, das Prunkstück, den Engel von Framingham. Als sie den schrecklichen Brief endlich aufgab, hegte sie nur die Hoffnung, dass Mrs Pikes christlicher Glaube sie zumindest ein wenig gegen diesen Schlag wappnen würde.
Alma selbst zog keinen Trost aus einem solchen Glauben. Sie glaubte zwar an den Schöpfer, hatte jedoch in Momenten der Verzweiflung nie Zuflucht bei ihm gesucht und plante auch jetzt nichts dergleichen. So war ihr Glaube nicht. Alma achtete und bewunderte Gott als Planer und Erste Ursache des Universums, doch für ihre Begriffe war Er eine abschreckende, ferne und sogar erbarmungslose Gestalt. Ein Wesen, das eine derart leiderfüllte Welt schuf, war ganz sicher nicht die Instanz, bei der man Trost für die Widrigkeiten ebendieser Welt suchte. Solchen Trost fand man nur bei Leuten wie Hanneke de Groot.
Nachdem ihre traurigen Pflichten erfüllt, all die vielen Briefe bezüglich Ambroses Tod geschrieben und aufgegeben waren, blieb Alma nichts weiter, als sich in ihren Witwenstand, ihre Schuldgefühle und ihre Trauer zu fügen. Mehr aus Gewohnheit als aus einem Bedürfnis heraus wandte sie sich wieder ihren Moosstudien zu. Sie fürchtete, ohne diese Aufgabe selbst sterben zu müssen. Ihr Vater verfiel zusehends. Ihre Verantwortung wuchs. Ihre Welt wurde immer kleiner.
Und so hätte wohl Almas ganzes weiteres Leben ausgesehen, wäre nicht – kaum fünf Monate später – Dick Yancey eingetroffen, der eines strahlenden Morgens im Oktober die Stufen von White Acre erklomm, in der Hand den kleinen, abgewetzten Lederkoffer, der einst Ambrose Pike gehört hatte, und ein Gespräch unter vier Augen mit Alma Whittaker verlangte.
Kapitel 19
Alma führte Dick Yancey ins Studierzimmer ihres Vaters und schloss die Tür. Noch nie zuvor war sie mit ihm allein gewesen. Er gehörte zu ihrem Leben, seit sie denken konnte, doch sie hatte sich in seiner Gegenwart stets befangen und unwohl gefühlt. Seine gewaltige Statur, die leichenblasse Haut, der glänzende kahle Schädel, der eisige Blick, das messerscharfe Profil – all das vereinte sich zu einer wahrhaft bedrohlichen Erscheinung. Selbst jetzt, da sie ihn seit bald fünfzig Jahren kannte, konnte Alma nicht einschätzen, wie alt er sein mochte. Er schien unsterblich. Das machte ihn nur noch furchterregender. Alle Welt fürchtete sich vor Dick Yancey, und genau so wollte Henry Whittaker es haben. Alma hatte nie begriffen, worauf sich Yanceys Loyalität Henry gegenüber gründete und wie es Henry gelang, ihn unter Kontrolle zu halten, doch eines stand fest: Ohne diesen unheimlichen Menschen wäre die Whittaker Company verloren gewesen.
»Mr Yancey.« Alma deutete auf einen Sessel. »Bitte, machen Sie es sich doch bequem.«
Er
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