Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
setzte sich nicht. Er blieb mitten im Zimmer stehen, Ambroses Koffer locker in einer Hand. Alma versuchte, nicht zu auffällig darauf zu starren – auf den einzigen Besitz ihres verstorbenen Mannes. Auch sie setzte sich nicht. Ganz offensichtlich würden sie es sich nicht bequem machen.
    »Wollten Sie etwas mit mir besprechen, Mr Yancey? Oder möchten Sie doch lieber meinen Vater sehen? Es geht ihm in letzter Zeit nicht gut, das ist Ihnen ja bekannt, aber heute ist einer von den besseren Tagen, und er ist ganz bei Sinnen. Wenn es Ihnen recht ist, kann er Sie in seinem Schlafgemach empfangen.«
    Dick Yancey sagte immer noch kein Wort. Für diese Taktik war er berüchtigt: Schweigen als Waffe. Wenn Dick Yancey schwieg, füllten andere die Stille aus lauter Nervosität mit Worten. Und sagten dabei mehr, als sie wollten. Dick Yancey beobachtete aus seiner Festung des Schweigens, wie die Geheimnisse umherflogen. Und anschließend brachte er all diese Geheimnisse mit sich nach White Acre. Darin bestand ein Teil seiner Macht.
    Alma war entschlossen, nicht in seine Falle zu tappen und unbedacht draufloszureden. So standen sie sicherlich zwei Minuten lang schweigend voreinander. Schließlich hielt Alma es nicht mehr aus. Sie ergriff wieder das Wort: »Wie ich sehe, haben Sie den Koffer meines verstorbenen Mannes bei sich. Ich nehme an, Sie waren auf Tahiti und haben ihn von dort mitgebracht? Sind Sie hier, um ihn mir zurückzugeben?«
    Immer noch rührte er sich nicht und sagte kein Wort.
    Alma fuhr fort: »Falls Sie sich fragen, ob ich den Koffer überhaupt zurückhaben möchte, Mr Yancey, so lautet die Antwort ja – ich möchte ihn sehr gern zurückhaben. Mein verstorbener Mann besaß nur wenig, und es würde mir viel bedeuten, den einzigen Gegenstand als Andenken zu behalten, von dem ich weiß, dass er ihm viel bedeutet hat.«
    Yancey sagte immer noch nichts. Wollte er, dass sie darum bettelte? Sollte sie ihn dafür bezahlen? Wollte er sonst irgendeine Gegenleistung? Oder – der Gedanke durchzuckte sie wie ein verirrter, vernunftwidriger Blitz – zögerte er etwa aus einem bestimmten Grund? War er sich unsicher? Bei Dick Yancey wusste man nie. Er war undurchschaubar. Alma wurde immer ungeduldiger und zugleich immer beunruhigter.
    »Mr Yancey«, sagte sie, »ich muss darauf bestehen, dass Sie sich mir erklären.«
    Doch Dick Yancey war kein Mann, der sich erklärte. Das wusste Alma so gut wie jeder andere. Er verschwendete keine Worte für nichtige Anlässe wie eine Erklärung. Er verschwendete überhaupt keine Worte. Von frühester Kindheit an hatte Alma ihn kaum einmal mehr als drei Wörter am Stück sagen hören. Auch an diesem Tag gelang es Dick Yancey, sein Anliegen in dreiWörter zu fassen, die er jetzt aus dem Mundwinkel hervorknurrte, während er an Alma vorüber zur Tür stapfte und ihr im Vorbeigehen den Koffer in die Hand drückte.
    »Verbrennen Sie den«, sagte er.
    •
    Eine Stunde lang saß Alma allein im Arbeitszimmer ihres Vaters und starrte den Koffer an, als wollte sie durch das abgenutzte, salzverkrustete Leder hindurch erkennen, was sich darin verbarg. Was in aller Welt hatte Dick Yancey bewogen, so etwas zu sagen? Warum machte er sich die Mühe, den Koffer vom anderen Ende des Erdballs herzubringen, nur um ihr dann zu sagen, sie solle ihn verbrennen? Wenn er verbrannt gehörte, warum hatte er ihn dann nicht selbst verbrannt? Und hatte er gemeint, sie solle ihn verbrennen, nachdem sie ihn geöffnet und den Inhalt begutachtet hatte, oder schon vorher? Weshalb hatte er so lange gezögert, bevor er ihr den Koffer ausgehändigt hatte?
    Es war natürlich schlechterdings unmöglich, ihm auch nur eine dieser Fragen zu stellen: Er war längst fort. Dick Yancey bewegte sich mit geradezu überirdischer Geschwindigkeit; inzwischen konnte er gut und gerne schon wieder halb in Argentinien sein. Doch selbst wenn er noch auf White Acre geblieben wäre, hätte er ihr auf keine weitere Nachfrage geantwortet. Das wusste sie. Derartige Unterredungen gehörten nicht zu Dick Yanceys Dienstleistungen. Alma wusste nur, dass Ambroses geliebter Koffer sich nun wieder in ihrem Besitz befand – und mit ihm ein Dilemma.
    Sie beschloss, ihn mit in ihr Studierzimmer zu nehmen, in die Remise, wo sie sich ungestörter damit befassen konnte. Sie legte ihn auf den Diwan in der Ecke – dorthin, wo Retta vor so vielen Jahren mit ihr geplaudert, wo Ambrose behaglich die langen Beine von sich gestreckt und wo Alma in den dunklen

Weitere Kostenlose Bücher