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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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adressiert war. Es stand kein Absender darauf, doch der Umschlag war mit einem Rand aus schwarzer Tinte versehen worden, was für eine Trauernachricht sprach. Alma las Henrys gesamte Korrespondenz, und so öffnete sie auch diesen Brief, als sie pflichtbewusst die Post im Arbeitszimmer ihres Vaters durchsah.
    Sehr geehrter Mr Whittaker,
    zum einen schreibe ich Ihnen heute, um mich vorzustellen, zum anderen, um Ihnen eine traurige Mitteilung zu machen. Ich bin Reverend Francis Welles und seit siebenunddreißig Jahren als Missionar in der Matavai-Bucht auf Tahiti tätig. In der Vergangenheit hatte ich des Öfteren mit Ihrem geschätzten Abgesandten Mr Yancey zu tun, der mich als begeisterten Laien auf dem Feld der Botanik kennt. Für Mr Yancey habe ich Pflanzenproben gesammelt, ihn an Orte von botanischem Interesse geführt und dergleichen mehr. Zudem habe ich ihm maritime Proben verkauft, Korallen und Muscheln, denen mein besonderes Interesse gilt.
    Seit geraumer Zeit unterstütze ich Mr Yancey auch bei dem Versuch, Ihre hiesige Vanilleplantage zu erhalten – ein Unterfangen, dem vor allem die Ankunft eines Ihrer jüngeren Angestellten im Jahr 1849 zuträglich war, eines gewissen Mr Ambrose Pike. Es ist meine traurige Pflicht, Sie in Kenntnis zu setzen, dass Mr Pike von uns gegangen ist, infolge einer Infektion, die bei dem hier herrschenden heißen Klima leider nur allzu leicht zu einem raschen und vorzeitigen Ableben des Erkrankten führen kann.
    Sicherlich möchten Sie seiner Familie mitteilen, dass Gott der Herr Ambrose Pike am 30. November des Jahres 1850 zu sich gerufen hat. Sie dürfen die Angehörigen außerdem in Kenntnis setzen, dass Mr Pike ein christliches Begräbnis zuteilwurde und ich dafür Sorge getragen habe, dass ein kleiner Grabstein seine letzte Ruhestätte ziert. Ich selbst bedauere sein Hinscheiden zutiefst. Er war ein höchst tugendhafter Gentleman von makellosem Charakter, wie man ihn in diesen Breiten nur selten findet. Ich bezweifle, dass mir je wieder ein Mensch wie er begegnen wird.
    Ich kann Ihnen keinen Trost spenden, wiewohl ich überzeugt bin, dass er nun an einem besseren Ort weilt, wo er von den Mühseligkeiten des Alterns verschont bleiben wird.
    Hochachtungsvoll
    Reverend F . P. Welles
    Die Nachricht traf Alma mit der Wucht einer Axt, die auf Granit schlägt: Sie hallte ihr in den Ohren nach, ließ sie bis ins Mark erzittern und Funken vor ihren Augen tanzen. Die Nachricht trennte ein Stück von ihr ab – ein Stück eines ungeheuer wichtigen Teils von ihr –, und dieses Stück segelte nun durch die Luft, um auf ewig unauffindbar zu bleiben. Hätte sie nicht gesessen, sie wäre zu Boden gestürzt. So sank sie nur vornüber auf den Schreibtisch ihres Vaters, drückte den so freundlichen und anteilnehmenden Brief des Reverend F . P. Welles ans Gesicht und weinte, als wollte sie jede einzelne Wolke am Himmelszelt leeren.
    •
    Wie konnte sie überhaupt noch mehr um Ambrose trauern, als sie es bereits getan hatte? Und doch, sie konnte. Es gab, wie sie bald erfuhr, Leid jenseits des Leides, so wie Schicht unter Schicht auf dem Meeresgrund lag – und man, wenn man weiter grub, auf immer neue Schichten stieß. Ambrose war schon so lange nicht mehr bei ihr, sie musste doch gewusst haben, dass er für immer fort war, und doch hatte sie nie damit gerechnet, dass er vor ihr sterben könnte. Das hätte allein der schlichte Zauber der Rechenkunst verhindern müssen: Er war doch jünger als sie. Wie konnte er als Erster sterben? Er war der Inbegriff der Jugend. Er versammelte alle Unschuld auf sich, die der Jugend je zu eigen gewesen war. Und dennoch war er tot, und sie lebte. Sie hatte ihn in den Tod geschickt.
    Es gibt eine Ebene, auf der die Trauer so tief wird, dass sie gar nichts mehr von Trauer an sich hat. Der Schmerz ist so massiv, dass der Körper ihn nicht mehr zu empfinden vermag. Die Trauer verätzt sich selbst, vernarbt, verhindert jede weitere Empfindung. Eine solche Taubheit ist wie eine Gnade. Auf dieser Ebene der Trauer war Alma angelangt, als sie das Gesicht schließlich wieder vom Schreibtisch ihres Vaters hob und ihr Schluchzen versiegt war.
    Sie handelte wie von einer dumpfen, unerbittlichen äußeren Kraft getrieben. Zunächst überbrachte sie ihrem Vater die traurige Nachricht. Sie fand ihn im Bett, die Augen geschlossen, das Gesicht so grau und müde, dass es aussah wie seine eigene Totenmaske. Sie musste die Nachricht von Ambroses Tod schmählich in Henrys Hörrohr

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