Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
begreifen.
Er hat mich gar nicht in Erwägung gezogen.
Aber George hatte ja auch nie etwas anderes in Alma gesehen als eine Kollegin und Botanikerin, die mit Meisterschaft ihr Mikroskop bediente. Mit einem Mal ergab alles Sinn. Wie hätte er Alma je bemerken sollen? Wie hätte er in Alma überhaupt eine Frau erkennen sollen, wenn Prudence, das Schmuckstück, gleich neben ihr stand? George hatte niemals auch nur geahnt, dass Alma ihn liebte, doch Prudence hatte es gewusst. Prudence hatte es von Anfang an gewusst. Und Prudence, das erkannte Alma nun mit wachsendem Kummer, musste wohl auch geahnt haben, dass es auf Erden nicht allzu viele Männer gab, die als Ehemann für Alma in Frage kamen, und dass George vermutlich die hoffnungsvollste Option war. Prudence selbst hingegen konnte jeden haben. So musste sie das wohl betrachtet haben.
Und so hatte Prudence George für Alma aufgegeben – oder es wenigstens versucht. Doch es war alles umsonst gewesen. Ihre Schwester hatte der Liebe entsagt, um ein Leben in Armut und Verzicht an der Seite eines knauserigen Gelehrten zu führen, der weder Wärme noch Zuneigung zeigen konnte. Sie hatte der Liebe entsagt und den brillanten Denker George Hawkes dazu gebracht, sein Leben mit einer ebenso verrückten wie hübschen kleinen Ehefrau zu verbringen, die nie auch nur ein Buch gelesen hatte und nun ihr Dasein in einer Anstalt fristete. Sie hatte der Liebe entsagt und damit Alma dazu gebracht, ein Leben in völliger Einsamkeit zu führen – und in fortgeschrittenem Alter den Reizen eines Mannes wie Ambrose Pike zu erliegen, der sich von ihrem Verlangen abgestoßen fühlte und selbst nur den Wunsch hegte, ein Engel zu sein (beziehungsweise, wie man nun vermuten musste, nackte junge Tahitianer zu lieben). Welch verschwendete Geste der Rücksichtnahme Prudence’ jugendliches Opfer also gewesen war! Welch lange Kette des Leids es für alle Beteiligten nach sich gezogen hatte! Welch schreckliches Chaos, das alles, und welch eine Aneinanderreihung schwerwiegender Fehler!
Arme Prudence , dachte Alma – endlich. Und einen endlosen Augenblick später setzte sie in Gedanken hinzu: Armer George! Und: Arme Retta! Und schließlich auch noch: Armer Arthur Dixon!
Sie waren allesamt zu bedauern.
»Wenn es stimmt, was du sagst, Hanneke«, sagte Alma, »dann erzählst du mir da eine zutiefst traurige Geschichte.«
»Und ob es stimmt, was ich sage.«
»Warum hast du mir nie davon erzählt?«
Hanneke zuckte die Achseln. »Was hätte das genützt?«
»Aber warum hat Prudence so etwas für mich getan?«, wollte Alma wissen. »Sie hat mich doch nicht einmal gemocht.«
»Es spielt keine Rolle, was sie von dir hielt. Sie ist ein guter Mensch, und sie lebt ihr Leben nach den richtigen Überzeugungen.«
»Hatte sie Mitleid mit mir, Hanneke? War es das?«
»Vor allem hat sie dich bewundert. Sie hat stets versucht, dir nachzueifern.«
»Unfug! Das hat sie nicht.«
»Der Unfug, Alma, steckt in dir! Natürlich hat sie dich stets bewundert, Kind. Denk doch einmal, wie du ihr erschienen sein musst, als sie hierher ins Haus kam! Denk an all das, was du wusstest, an all das, was du konntest. Sie hat stets versucht, deine Bewunderung zu erringen. Du aber hast sie ihr nie gegeben. Hast du sie je gelobt? Hast du jemals auch nur zur Kenntnis genommen, wie angestrengt sie sich bemüht hat, dich in ihren Studien einzuholen? Hast du je ihre Talente gewürdigt, oder hast du sie missachtet, weil sie dir weniger wert zu sein schienen als deine eigenen? Hast du ihre bewundernswerten Eigenschaften überhaupt je bemerkt?«
»Ich habe ihre bewundernswerten Eigenschaften nie begriffen.«
»Nein, Alma – du hast nie daran geglaubt. Gib es zu. Du hältst ihre Rechtschaffenheit für eine Pose. Du glaubst, sie sei eine Schwindlerin.«
»Aber wenn sie doch immer diese Maske trägt …«, murmelte Alma, verzweifelt bemüht, noch etwas Boden zu finden, auf den sie ihre Verteidigung gründen konnte.
»Die trägt sie allerdings, denn sie möchte weder gesehen noch erkannt werden. Aber ich kenne sie, und ich sage dir, hinter dieser Maske steckt die beste, die großherzigste, die bewunderungswürdigste aller Frauen. Wie kannst du das bloß nicht erkennen? Siehst du denn nicht, wie verdienstvoll sie bis heute ist – wie aufrichtig in ihren guten Taten? Was muss sie denn noch alles unternehmen, Alma, um sich deine Achtung zu verdienen? Und dennoch hattest du nie ein lobendes Wort für sie, und nun willst du deine
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