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Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
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da, beide Hände im Schoß. Sie rührte sich nicht. Sie nahm die neuen Wahrheiten in sich auf, und sie schreckte vor keiner einzigen davon zurück.
    •
    Am nächsten Morgen ritt Alma ganz allein zu den Geschäftsräumen des langjährigen Notars ihres Vaters. Dort verbrachte sie die nächsten neun Stunden mit dem Mann am Schreibtisch, setzte Dokumente auf, formulierte Zusatzklauseln und schlug alle Einwände in den Wind. Der Notar billigte nichts von dem, was sie vorhatte. Sie hörte nicht auf ihn. Er schüttelte seinen alten vergilbten Kopf, bis all seine Kinne wackelten, doch er konnte sie beim besten Willen nicht umstimmen. Die Entscheidung lag allein bei ihr, das war ihnen beiden nur allzu klar.
    Nachdem diese Dinge erledigt waren, lenkte Alma ihr Pferd in die 39. Straße, zum Haus ihrer Schwester. Es war bereits Abend, und die Familie Dixon hatte soeben ihre Mahlzeit beendet.
    »Begleite mich auf einen kleinen Spaziergang«, sagte Alma zu Prudence, die sich, falls sie sich über den unerwarteten Besuch ihrer Schwester wunderte, diesbezüglich nichts anmerken ließ.
    Die beiden Frauen gingen die Chestnut Street entlang und hielten einander artig untergehakt.
    »Dir ist ja bekannt«, begann Alma, »dass unser Vater von uns gegangen ist.«
    »Ja«, sagte Prudence.
    »Ich möchte dir für deine Beileidsbekundung danken.«
    »Keine Ursache«, sagte Prudence.
    Sie war nicht zur Beisetzung erschienen. Doch damit hätte auch niemand gerechnet.
    »Ich habe den ganzen Tag beim Notar verbracht«, fuhr Alma fort. »Wir sind das Testament durchgegangen. Es steckte voller Überraschungen.«
    »Ehe du weitersprichst«, unterbrach sie Prudence, »muss ich dir sagen, dass ich unmöglich guten Gewissens irgendeine Geldsumme von unserem verstorbenen Vater annehmen kann. Es gab einen Bruch zwischen uns, den zu beheben ich weder fähig noch willens war, und es wäre unmoralisch von mir, nun, nach seinem Ableben, von seiner Freigiebigkeit zu profitieren.«
    »Mach dir keine Sorgen.« Alma blieb stehen und wandte sich ihrer Schwester direkt zu. »Er hat dir nichts hinterlassen.«
    Prudence, beherrscht wie immer, zeigte keine Reaktion. Sie sagte nur: »Dann ist es ja nicht weiter kompliziert.«
    »Nein, Prudence«, sagte Alma und ergriff die Hand ihrer Schwester. »Es ist durchaus kompliziert. Denn Vater hat etwas höchst Erstaunliches getan, und ich bitte dich, mir aufmerksam zuzuhören. Er hat das gesamte Anwesen White Acre mitsamt dem Großteil seines Vermögens der Abolitionistischen Gesellschaft von Philadelphia hinterlassen.«
    Prudence zeigte immer noch keine Regung oder Reaktion. Beim Himmel, sie ist zäh , dachte Alma bei sich und hätte sich am liebsten vor Bewunderung für diese außerordentliche Beherrschtheit vor ihrer Schwester verneigt. Beatrix wäre stolz auf sie gewesen.
    Alma fuhr fort: »Es gibt jedoch eine zusätzliche Klausel im Testament. Er hat verfügt, dass das Anwesen den Abolitionisten nur unter der Bedingung zufällt, dass das Haus in eine Schule für schwarze Kinder umgewandelt wird und dass du, Prudence, diese Schule leitest.«
    Prudence sah Alma durchdringend an, als suchte sie nach Anzeichen für Unwahrheit in Almas Gesicht. Alma indessen fiel es nicht weiter schwer, eine ehrliche Miene aufzusetzen, denn so stand es ja tatsächlich in dem Dokument – oder besser gesagt: So stand es jetzt in dem Dokument.
    »Er hat einen recht langen erläuternden Brief hinterlassen«, berichtete Alma weiter, »den ich gerne für dich zusammenfasse. Er schreibt, er habe den Eindruck, in seinem Leben wenig Gutes getan zu haben, obwohl er selbst so begünstigt gewesen sei. Er habe der Welt nichts von Wert hinterlassen, als Gegenleistung für sein ungeheuer glückliches Los. Und er sei der Ansicht, dass du genau der richtige Mensch bist, dafür zu sorgen, dass White Acre künftig ein Hort der Nächstenliebe werde.«
    »Das hat er so geschrieben?«, fragte Prudence, misstrauisch wie immer. »In genau diesen Worten, Alma? Unser Vater, Henry Whittaker, soll von einem ›Hort der Nächstenliebe‹ gesprochen haben?«
    »Das waren seine Worte«, bestätigte Alma. »Die Urkunden und die übrigen Dokumente liegen alle schon bereit. Falls du die Zusatzklausel nicht akzeptierst – falls du also nicht nach White Acre zurückkehrst und dort eine Schule einrichtest, wie es der Wunsch unseres Vaters ist –, gehen Geld und Besitz schlicht und einfach an uns beide, und wir müssen alles verkaufen oder es auf andere Weise unter uns

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