Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)
sicher, ob sie die Kraft haben würde, noch einmal ganz in diese große Frage einzusteigen – ihm von Prudence und den Waisenkindern zu erzählen, von den Frauen, die Säuglinge aus Kanälen fischten, und den Männern, die ins Feuer liefen, um Wildfremde zu retten, von den halb verhungerten Gefangenen, die ihren letzten Bissen Brot mit anderen halb verhungerten Gefangenen teilten, den Missionaren, die den Unzucht Treibenden verziehen, den Pflegerinnen, die die Wahnsinnigen betreuten, den Menschen, die einen Hund liebten, den sonst keiner lieben mochte, und von all den vielen anderen.
Doch es war nicht nötig, ins Detail zu gehen. Er begriff sofort.
»Diese Frage habe ich mir auch gestellt«, sagte er.
»Von Ihnen wusste ich das«, sagte Alma. »Aber ich habe mich immer gefragt: Hat auch Darwin sie sich gestellt?«
»Ja«, sagte Wallace. Dann hielt er nachdenklich inne. »Wobei ich, wenn ich ehrlich bin, zugeben muss, dass ich nicht weiß, zu welchen Schlüssen er diesbezüglich kam. Er hat immer sehr darauf geachtet, sich nicht abschließend zu Fragen zu äußern, wenn er sich selbst nicht vollkommen sicher war. Im Gegensatz zu mir.«
»Im Gegensatz zu Ihnen«, räumte Alma ein. »Doch nicht im Gegensatz zu mir.«
»Nein, nicht im Gegensatz zu Ihnen.«
»Mochten Sie Mr Darwin?«, fragte Alma. »Ich habe mich das immer gefragt.«
»Oh ja«, erwiderte Wallace ohne Zögern. »Sehr. Er war der Beste unter den Menschen. Ich glaube sogar, er war der größte Mann unserer Zeit, womöglich sogar der größte aller Zeiten. Mit wem könnten wir ihn denn vergleichen? Es gab Aristoteles. Es gab Kopernikus. Es gab Galileo. Es gab Newton. Und es gab Darwin.«
»Dann haben Sie es ihm also nie verübelt?«, fragte Alma.
»Lieber Himmel, nein, Miss Whittaker. In der Wissenschaft sollte aller Ruhm dem ursprünglichen Entdecker gelten, und folglich gebührte das Recht an der Theorie von der natürlichen Selektion unbedingt ihm. Mehr noch, er war der Einzige, der die nötige Würde dafür besaß. Ich betrachte ihn als den Vergil unserer Generation, der uns durch Himmel, Hölle und Fegefeuer geleitet hat. Er war unser göttlicher Cicerone.«
»Der Ansicht war auch ich stets.«
»Ich versichere Ihnen, Miss Whittaker, mir macht es absolut nichts aus, dass Sie mir mit der Theorie der natürlichen Selektion zuvorgekommen sind, aber es hätte mich zutiefst betrübt, wenn Sie schneller gewesen wären als Darwin. Wissen Sie, ich bewundere ihn so sehr. Ich möchte, dass sein Thron ihm erhalten bleibt.«
»Durch mich droht seinem Thron keine Gefahr, junger Mann«, entgegnete Alma milde. »Da brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen.«
Wallace lachte. »Es ist mir eine Freude, Miss Whittaker, dass Sie mich als jungen Mann bezeichnen. Für einen Mann im siebten Lebensjahrzehnt ist das durchaus ein Kompliment.«
»Sir, aus Sicht einer Dame im neunten Lebensjahrzehnt ist es schlicht die Wahrheit.«
Er erschien ihr tatsächlich jung. Das war interessant – schließlich hatte sie den allergrößten Teil ihres Lebens in der Gesellschaft älterer Männer verbracht. Da waren all die anregenden Mahlzeiten ihrer Kindheit, die sie an einen Tisch mit einer nicht enden wollenden Parade brillanter, betagter Geister geführt hatten. Da waren die Jahre auf White Acre, allein mit ihrem Vater, mit dem sie bis spät in die Nacht über Botanik und Geschäfte debattierte. Da war die Zeit auf Tahiti in Gesellschaft des aufrechten und anständigen Reverend Francis Welles. Und schließlich die vier glücklichen Jahre mit Onkel Dees hier in Amsterdam, bevor er starb. Doch nun war Alma selbst alt, und es gab keine älteren Männer mehr! Nun saß sie hier mit einem gebeugten Graubart – einem Grünschnabel von gerade mal sechzig Jahren – und war selbst das Fossil im Raum.
»Wissen Sie, was ich glaube, Miss Whittaker? Bezüglich Ihrer Frage nach dem Ursprung von Mitgefühl und Opferbereitschaft beim Menschen? Ich glaube, die Evolution kann uns nahezu alles erklären, und ich bin völlig überzeugt, dass sie uns absolut alles erklärt, was in der übrigen Welt der Natur vor sich geht. Allerdings glaube ich nicht, dass die Evolution allein für unser einzigartiges menschliches Bewusstsein verantwortlich ist. Es besteht schließlich keine evolutionäre Notwendigkeit dafür, dass wir einen so scharfen Verstand, ein so empfindsames Gemüt besitzen. Es liegt kein praktischer Nutzen in geistigen Fähigkeiten, wie wir sie besitzen. Wir brauchen keinen Geist, der
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