Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
heute bin ich schon nach zehn Schritten erschöpft.«
    »Dann werden wir eben alle zehn Schritte rasten«, erwiderte Wallace und nahm ihren Arm, um sie zu stützen.
    Es war ein Donnerstagnachmittag, es nieselte, und der Hortus lag nahezu verlassen da. Alma und Wallace hatten die Mooshöhle ganz für sich allein. Sie führte ihn von Fels zu Fels, zeigte ihm die Moose sämtlicher Kontinente und erklärte ihm, wie es ihr gelungen war, sie alle an diesem einen Ort zusammenzubringen. Er staunte darüber – wie es jeder tat, der eine Liebe zur Welt in sich trug.
    »Mein Schwiegervater wäre begeistert davon«, sagte er.
    »Ich weiß«, sagte Alma. »Ich habe stets den Wunsch gehegt, Mr Mitten das alles hier zu zeigen. Vielleicht kommt er ja einmal zu Besuch.«
    »Was mich betrifft«, sagte Wallace und nahm auf der Bank in der Mitte des Exponats Platz, »ich würde wohl täglich hierherkommen, wenn ich nur könnte.«
    »Ich komme tatsächlich täglich.« Alma setzte sich neben ihn auf die Bank. »Meist auf allen vieren, mit einer Pinzette in der Hand.«
    »Was für ein Vermächtnis Sie hier geschaffen haben!«, sagte er.
    »Das ist ein schönes Lob, Mr Wallace, aus dem Munde eines Menschen, der selbst ein gewaltiges Vermächtnis geschaffen hat.«
    »Ach«, wischte er das Kompliment beiseite.
    Eine Zeitlang saßen sie in wohligem Schweigen beieinander. Alma musste daran denken, wie sie auf Tahiti zum ersten Mal mit Tomorrow Morning allein gesprochen hatte. Sie dachte daran, was sie zu ihm gesagt hatte: »Sie und ich sind – so glaube ich – vom Schicksal enger miteinander verbunden, als man denken sollte.« Dasselbe hätte sie jetzt gern zu Alfred Russel Wallace gesagt, doch sie wusste nicht, ob das richtig sein würde. Er sollte ja nicht glauben, dass sie mit ihrer eigenen Evolutionstheorie prahlen wollte. Oder schlimmer noch: dass sie log. Oder – das Schlimmstmögliche –, dass sie Anspruch auf sein Vermächtnis oder das von Darwin erheben wollte. Vermutlich war es das Beste, zu schweigen.
    Doch dann sprach er und sagte: »Miss Whittaker, ich muss Ihnen sagen, dass ich diese letzten Tage mit Ihnen sehr genossen habe.«
    »Vielen Dank«, erwiderte sie. »Auch ich habe die Zeit mit Ihnen sehr genossen. Mehr, als Sie ahnen können.«
    »Es ist sehr großzügig von Ihnen, sich meine Ideen zu allem und jedem anzuhören«, fuhr er fort. »Nicht viele sind wie Sie. Ich habe im Leben die Erfahrung gemacht, dass mich alle mit Newton vergleichen, solange ich über Biologisches spreche. Doch sobald ich auf die Geisterwelt zu sprechen komme, nennt man mich einen schwachsinnigen, kindischen Idioten.«
    »Hören Sie nicht darauf«, sagte Alma und tätschelte ihm mütterlich die Hand. »Es hat mir stets missfallen, wie man Sie beleidigt.«
    Eine Zeitlang blieb er still, dann sagte er: »Darf ich Sie etwas fragen, Miss Whittaker?«
    Alma nickte.
    »Darf ich fragen, wie es kommt, dass Sie so viel über mich wissen? Ich möchte nicht, dass Sie glauben, es störe mich – ganz im Gegenteil, ich fühle mich geschmeichelt, ich verstehe es nur einfach nicht. Wissen Sie, Ihr Gebiet ist die Bryologie und meines nicht. Noch dazu sind Sie weder Spiritistin noch Mesmeristin. Und doch sind Sie mit meinen Schriften zu jeglichem denkbaren Gebiet so sehr vertraut und kennen auch meine Kritiker. Sie wissen sogar, wer der Vater meiner Frau ist. Wie kommt das? Ich kann es mir einfach nicht erklären …«
    Er brach ab, fürchtete offenbar, unhöflich gewesen zu sein. Alma wollte nicht, dass er glaubte, er habe eine ältere Dame gekränkt. Sie wollte auch nicht, dass er sie für eine verrückte alte Schachtel mit einer unschicklichen fixen Idee hielt. Was blieb ihr also übrig?
    Sie erzählte Wallace alles.
    •
    Als sie geendet hatte, schwieg er lange, und schließlich fragte er: »Haben Sie die Abhandlung noch?«
    »Selbstverständlich«, sagte sie.
    »Darf ich sie lesen?«, fragte er.
    Langsam, ohne ein weiteres Wort, machten sie sich durch den Hintereingang des Hortus auf zu Almas Arbeitszimmer. Schwer atmend vom Treppensteigen schloss Alma die Tür auf und bat Mr Wallace, an ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen. Unter dem Diwan in der Ecke zog sie einen kleinen, verstaubten Lederkoffer hervor – so abgenutzt, als wäre er mehrmals um die ganze Welt gereist, und genau so war es ja auch – und öffnete ihn. Darin fand sich nichts weiter als ein vierzigseitiges Manuskript, handgeschrieben und so sorgsam in ein Flanelltuch gehüllt wie ein

Weitere Kostenlose Bücher