Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition)

Titel: Das Wesen der Dinge und der Liebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Gilbert
Vom Netzwerk:
weiten grünen Rasenflächen des Palastes und die hübschen Häuser der Maid of Honor Row , in denen die Bediensteten der Königin auf französischem Leinen schliefen, so nah waren? Einmal war Henry auf eine mächtige Gartenmauer geklettert und hatte heimlich eine Lady in ihrem elfenbeinfarbenen Kleid beim Dressurreiten beobachtet, auf einem makellos weißen Pferd, während ein Diener zu ihrer Erheiterung Geigenmusik spielte. Hier in Richmond gab es Leute, die so lebten. Und die Whittakers hatten nicht einmal einen Fußboden.
    Aber Henrys Vater kämpfte um nichts. Seit dreißig Jahren empfing er klaglos denselben kümmerlichen Lohn und hatte sich auch niemals darüber beschwert, selbst bei übelstem Wetter so lange im Freien arbeiten zu müssen, dass es ihm die Gesundheit ruiniert hatte. Henrys Vater hatte den vorsichtigsten Weg durchs Leben gewählt, insbesondere im Umgang mit Höhergestellten – und wer stand in seinen Augen eigentlich nicht höher als er? Er legte großen Wert darauf, niemanden zu kränken und sich niemals einen Vorteil zu verschaffen, selbst wenn ihm dieser fast in den Schoß fiel. »Sei niemals dreist, Henry«, erklärte Mr Whittaker seinem Sohn. »Man kann das Schaf nur ein Mal schlachten. Wenn du aber vorsichtig bist, kannst du es jedes Jahr scheren.«
    Was konnte Henry angesichts eines so schwachen, genügsamen Vaters vom Leben erwarten, wenn er nicht mit eigenen Händen danach griff? Ein Mann sollte zulangen , nahm er sich vor, als er gerade erst dreizehn war. Ein Mann sollte täglich ein Schaf schlachten.
    Aber wo war das Schaf zu finden?
    Dies war der Zeitpunkt, da Henry Whittaker zu stehlen begann.
    •
    Schon um das Jahr 1775 waren die Gärten von Kew eine botanische Arche Noah mit einer Tausende von Exemplaren umfassenden Sammlung, die durch wöchentliche Lieferungen ständig erweitert wurde – Hortensien aus dem Fernen Osten, Magnolien aus China, Farne von den Westindischen Inseln. Zudem hatte Kew einen neuen, ehrgeizigen Direktor: Sir Joseph Banks, frisch heimgekehrt von seiner triumphalen Weltreise als leitender Botaniker auf Kapitän Cooks Endeavor . Banks, der ohne Salär arbeitete (ihn interessierte nach eigener Auskunft nur der Ruhm des Britischen Weltreichs, wiewohl einige Zeitgenossen andeuteten, dass er sich vielleicht doch auch ein kleines bisschen für den Ruhm von Sir Joseph Banks interessierte), hatte sich mit furioser Leidenschaft dem Sammeln von Pflanzen verschrieben, um einen aufsehenerregenden botanischen Garten von Rang und Namen zu schaffen.
    Oh, Sir Joseph Banks! Dieser gutaussehende, lasterhafte, ehrgeizige, wetteifernde Abenteurer! Er war alles, was Henrys Vater nicht war. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren hatte eine üppige Erbschaft von jährlich sechstausend Pfund Joseph Banks zu einem der reichsten Männer Englands gemacht. Der attraktivste dürfte er wohl auch gewesen sein. Banks hätte ein luxuriöses Leben im Müßiggang führen können, doch stattdessen strebte er danach, der verwegenste unter den botanischen Forschern zu werden – ein Ruf, dem er folgte, ohne auch nur im Geringsten auf Prunk und Glanz zu verzichten. Finanziell hatte Banks aus eigener Tasche beträchtlich zu Kapitän Cooks erster Expedition beigetragen, was ihm erlaubte, zwei schwarze Diener, zwei weiße Diener, einen zusätzlichen Botaniker, einen wissenschaftlichen Sekretär, zwei Maler, einen Zeichner und zwei italienische Windspiele mit auf das enge Schiff zu nehmen. Im Laufe seines zweijährigen Abenteuers hatte Banks tahitianische Königinnen verführt, an Stränden nackt mit Wilden getanzt und im Mondlicht jungen heidnischen Mädchen beim Tätowieren ihrer Gesäßbacken zugesehen. Er hatte einen Tahitianer namens Omai mit nach England genommen, den er dort wie ein Haustier hielt, und zudem an die viertausend Pflanzenproben heimgebracht – von denen knapp die Hälfte der wissenschaftlichen Welt bis dahin unbekannt war. Sir Joseph Banks war der berühmteste und draufgängerischste Mann Englands, und Henry bewunderte ihn ungemein.
    Trotzdem bestahl er ihn.
    Eigentlich lag es nur daran, dass sich eine Gelegenheit bot, und zwar eine unübersehbare. Banks genoss in wissenschaftlichen Kreisen nicht nur den Ruf eines großen botanischen Sammlers, sondern auch den eines großen botanischen Geizhalses. Als Gentleman teilte man in jener Zeit auch als Botaniker seine Entdeckungen höflich mit anderen Forschern, doch Teilen war nicht Banks’ Sache. Aus aller Welt kamen Professoren,

Weitere Kostenlose Bücher