Das Wesen. Psychothriller
wahrscheinlich erklären, Herr Kriminaloberkommissar, aber ich werde es nicht tun, denn das herauszufinden ist nicht meine, sondern Ihre Aufgabe.«
Sein Lächeln war verschwunden. Mit einer schnellen Bewegung sah er hinter sich zum Fuß der Treppe. »Und jetzt bitte ich Sie, mich zu entschuldigen. Meine Mittagspause ist gleich zu Ende.«
Menkhoff hob die Hand. »Moment, eine letzte Frage noch.«
Lichner nickte in der Art, wie man einem nervenden Kind etwas gestattet, und sagte: »Also gut, wann genau ist sie gestorben?«
Er überraschte damit meinen Partner ebenso wie mich. »Wie kommen Sie jetzt darauf?«
Lichners Augen richteten sich für einen flüchtigen Moment gegen die Decke. »Ihre
letzte Frage
, Herr Oberkommissar. Da ich von einer senilen alten Frau belastet werde, bin ich natürlich verdächtig, und die wichtigste Frage überhaupt muss sein: Wo bin ich gewesen, und was habe ich getan, als das Mädchen umgebracht wurde. Dazu muss ich aber wissen, wann man das arme Kind getötet hat. Das verstehen Sie schon … oder?«
Das Lächeln, da war es wieder, es war eine Waffe, die er einsetzte, um sein Gegenüber nervös zu machen. Oder wütend. Oder beides. Bernd Menkhoff jedenfalls war wütend und konnte oder wollte es nicht verbergen. »Sie wurde am 28. Januar gegen Mittag entführt und vermutlich am Abend desselben Tages umgebracht. Womit also haben Sie den Nachmittag und den Abend des 28. Januar verbracht, Herr Dr. Lichner?«
»Lassen Sie mich einen Moment nachdenken, der Nachmittag des 28. Januar … ah, ich weiß: Ich war einkaufen, in der Stadt. Alleine, den ganzen Nachmittag.«
»Den ganzen Nachmittag?«, fragte ich. »Und Ihre Praxis?«
Mit theatralischer Geste schüttelte er den Kopf. »Nein, wirklich, die Realität hat mit den spannenden Krimis im Fernsehen rein gar nichts zu tun.« Er sah mich mitleidig an. »Natürlich hätte der
Tatort
-Kommissar das Schild draußen neben der Tür gesehen, auf dem die Öffnungszeiten meiner Praxis stehen. Er hätte gewusst, dass freitags nachmittags meine Praxis geschlossen ist und dass der 28. Januar ein Freitag war.«
Das Kribbeln auf meiner Kopfhaut war schon deutlicher als noch Minuten zuvor. Wie konnte ich auch …
»Kann jemand bestätigen, dass Sie an diesem Nachmittag in Aachen waren?« Bernd Menkhoff schnaufte. »Hat jemand Sie gesehen? Verkäuferinnen vielleicht in einem Geschäft, in dem Sie eingekauft haben?«
Lichner sah ihn an, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. »Sie möchten wissen, ob eine Verkäuferin sich an mich erinnern kann, bei der ich vor mehr als zwei Wochen irgendwelche Einkäufe bezahlt habe? Ist das Ihr Ernst, Herr Kriminaloberkommissar?«
»Wann sind Sie von Ihrer Einkaufstour zurückgekommen?«, fragte Menkhoff, ohne auf die erneute Provokation einzugehen.
»Das muss gegen sieben gewesen sein, vielleicht auch halb acht.«
»Kann
das
jemand bestätigen?«
Süffisantes Lächeln. »Oh ja. Ich kann mich erinnern, dass ich gleich nachdem ich nach Hause gekommen bin, mit dieser wundervollen Frau, die Sie eben kennengelernt haben, wie soll ich es ausdrücken … wir haben es nicht einmal mehr bis ins Schlafzimmer geschafft. Und ich versichere Ihnen, daran kann sie sich erinnern.«
»Wir melden uns wieder bei Ihnen«, knurrte Menkhoff und tippte mir gegen den Arm. »Los, gehen wir.«
»Muss ich jetzt in der Stadt bleiben oder so was?«, rief uns Lichner hinterher, als wir gerade zur Tür heraus waren. Wir ignorierten ihn beide.
»Überhebliches Arschloch«, zischte Menkhoff neben mir, als wir das Haus hinter uns gelassen hatten.
»Ja, er hält sich offenbar für überlegen in jeder Beziehung«, stimmte ich ihm zu. »Ich frage mich immer wieder, wie solche Typen es schaffen, Frauen wie diese Nicole Klement zu bekommen.«
Mein Partner grunzte etwas Unverständliches und fügte ein paar Schritte weiter hinzu: »Wenn sich herausstellt, dass der Kerl auch nur ein kleinstes Klümpchen Dreck am Stecken hat, reiß ich ihm den Arsch auf.« Dafür hatte er meine volle Sympathie.
Wir klingelten bei Marlies Bertels, doch die alte Frau öffnete nicht. Ich versuchte es noch einmal, aber hinter der Tür rührte sich nichts. »Vielleicht einkaufen.« Menkhoff deutete mit dem Kopf in Richtung Spielplatz, zum Haus der Familie Körprich. »Fragen wir mal Julianes Eltern, ob die irgendwas von Süßigkeiten wissen.«
Während wir vor dem Haus der Familie Körprich darauf warteten, dass uns geöffnet wurde, betrachtete
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