Das Wesen. Psychothriller
nach unserem Telefonat etwas entdeckt haben, was ein paar Fragen aufwirft, Frau Bertels.« Menkhoff legte den Bericht auf den Tisch und tippte mit dem Finger darauf. »Hier drin steht alles über Ihr Gespräch mit unseren Kollegen vor zwei Wochen. Erinnern Sie sich daran?«
Sie machte ein entrüstetes Gesicht. »Aber natürlich erinnere ich mich daran, Herr Kommissar, ich bin doch noch bei Verstand.«
»Oberkommissar«, verbesserte Menkhoff sie.
»Wie?«
»Ich bin Oberkommissar, Frau Bertels.«
»Ach …«
»Ja. Dann erinnern Sie sich also auch noch daran, dass Sie ausgesagt haben, Sie hätten die kleine Juliane an dem Tag, an dem sie verschwunden ist, nicht auf dem Spielplatz gesehen?«
»Ja, natürlich, und das stimmt auch.«
»Stimmt es auch, dass Sie das Mädchen gar nicht sehen konnten, selbst wenn Sie aus dem Fenster geschaut hätten, weil Sie von Ihrem Fenster aus überhaupt nicht auf den Spielplatz sehen können?« Sie nickte eifrig. »Ja, das stimmt. Da stehen große Sträucher, und ein Nussbaum ist auch dabei. Wenn im Herbst die Nüsse herunterfallen, ist das immer –«
Menkhoff ließ die flache Hand auf den Tisch fallen. Marlies Bertels fuhr bei dem dumpfen Knall zusammen. »Wie konnten Sie dann sehen, dass Dr. Lichner dem Mädchen auf dem Spielplatz Süßigkeiten gegeben hat, Frau Bertels, und das gleich dreimal? Können Sie mir das bitte schön erklären?«
Die alte Frau starrte ihn mit großen Augen an. Die Angst, die sie mit einem Mal vor ihm hatte, stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
»Warum antworten Sie nicht, Frau Bertels?«
Weil sie vor Angst zittert, dachte ich und fragte mich, wie es sein konnte, dass ein so erfahrener Polizist wie Bernd Menkhoff nicht genügend Empathie besaß, das zu spüren. Wenige Stunden zuvor hatte er doch schon den gleichen Fehler gemacht. »Frau Bertels«, sagte ich und bemühte mich, Ruhe und Verständnis in meine Stimme zu legen, »ich bin ganz sicher, wir werden das zusammen klären können.«
Ihr Blick heftete sich auf mich. »Aber … ich habe doch … ich …« Ich sah zu Menkhoff herüber, der sich glücklicherweise zurückhielt.
»Ich … hatte ich gesagt, auf dem Spielplatz? Da habe ich mich wohl vertan, der Doktor hat dem Mädchen die Süßigkeiten nicht auf dem Spielplatz … Es … es war davor, ja, er hat ihr die Süßigkeiten vor dem Spielplatz gegeben. Vor den Sträuchern, gleich gegenüber, da konnte ich es sehen.« In ihrer dünnen Stimme schwang Verzweiflung mit, sie tat mir leid. Andererseits belastete sie mit ihrer Aussage diesen Psychiater, und auch wenn ich den Kerl nicht mochte, mussten wir es herausfinden, wenn diese Beobachtungen nicht stimmten. »Haben Sie sich vielleicht geirrt?«, versuchte ich es weiter. »Es ist überhaupt nicht schlimm, wenn es so sein sollte. Wir alle irren uns schon … –«
»Ich bin noch nicht so alt, dass ich mir Sachen einbilde. Ich habe mich nur … falsch ausgedrückt.«
»Sind Sie ganz sicher?«, schaltete sich nun mein Partner wieder ein.
»Ja, der Doktor hat dem kleinen Mädchen etwas gegeben, und ich habe es gesehen. Zweimal.«
»Zweimal? Heute Mittag waren Sie sicher, es war dreimal. Was stimmt denn nun?«
Sie wackelte mit dem Kopf. »Ach, Sie bringen mich ganz durcheinander. Heute Mittag dachte ich, Sie wären nett, aber Sie sind gar nicht nett. Sie wollen mir weismachen, ich wäre schon so alt, dass ich mir Dinge einbilde, aber ich bin noch nicht so alt. Und dumm bin ich auch nicht.« Mit einer für ihre Verhältnisse schnellen Bewegung stand sie auf. »So was tut man nicht, Herr Kommissar. Ich weiß genau, was ich gesehen habe. Sie brauchen mich nicht mehr zu besuchen, und einen Kuchen backe ich Ihnen auch nicht. So, und jetzt habe ich zu tun.«
13
23. Juli 2009
Um kurz vor acht klingelte ich an Menkhoffs Tür. Anders als an den Tagen zuvor, an denen mir die drückende Hitze schon am frühen Morgen den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte, herrschten noch recht angenehme Temperaturen. Menkhoff öffnete in Boxershorts und wandte sich gleich wieder ab. »Komm rein, mach dir einen Kaffee, ich brauch noch fünf Minuten. Luisa ist mit Frau Christ in der Küche.«
Frau Christ war eine korpulente Dame Anfang sechzig und die
Perle des Hauses
. Sie kümmerte sich tagsüber auch um Menkhoffs fünfjährige Tochter. Ich sah die Frau nicht oft, denn normalerweise kam sie morgens erst gegen zehn und blieb bis sechs oder sieben, je nachdem, wann Bernd oder Teresa von der Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher