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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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hockte und mit leerem Blick in die Ferne starrte, bevor er einen Haufen auf den Teppich setzte), nachdem die Zeitungen über jeden seiner Schritte berichtet und die Bürger an den Straßenecken darüber debattiert hatten, ob er menschlicher Natur sei, gab man ihn dem Vergessen anheim. Sicard, der sich in erster Linie seinen fügsameren, formbareren Schülern, der Arbeit an seinem Buch über die Erziehung Taubstummer sowie seinen Aufgaben als einer der Gründer der Société des Observateurs de l’homme widmete, untersuchteden Jungen einige Tage lang und erklärte, er sei ein unheilbar Schwachsinniger – er hatte nicht vor, seine Reputation für ein Wesen aufs Spiel zu setzen, das auf keinerlei Zeichen reagierte und über weniger Verstand oder auch nur Sinn für Sauberkeit verfügte als eine Katze. Also wurde das Kind abermals ausgesetzt, diesmal allerdings innerhalb der Mauern des Instituts, wo niemand sich um ihn kümmerte und die anderen Kinder es als ihre Pflicht ansahen, ihn zu jagen, zu hänseln und zu quälen.
    Er schlich durch die Flure, an den Wänden und Mauern entlang, bewegte sich von Schatten zu Schatten, als wäre er lichtscheu, und wenn er die Taubstummen auf der Treppe lärmen hörte, rannte er in die entgegengesetzte Richtung: weiter hinauf, wenn sie unter ihm waren, hinunter, wenn sie von oben kamen. Im Freien war er wachsam und ängstlich und drückte den Rücken an die rauhen Steine des Hauses, und wenn die anderen Kinder aus dem Unterricht kamen, kletterte er auf den nächsten Baum. Vielleicht dachte er in dieser Zeit an Flucht, doch diese war unmöglich, nicht nur, weil er nachts eingeschlossen wurde, sondern auch wegen der Mauern, die das Institut umgaben – zwar hätte er sie nach Art eines Eichhörnchens erklettern können, doch jenseits der Mauern lag die Stadt, deren Geschöpf und Gefangener er jetzt war.
    Sein einziger Trost war die Privatheit seines Zimmers, und auch diese wurde ihm oft genug verweigert, denn noch immer geisterten Wissenschaftler durch die Korridore des Instituts: Philosophen und Naturforscher steckten den Kopf durch die Tür, folgten ihm, wenn er in seinem seltsamen schiefen Gang durch das Gebäude trottete oder auf einen Baum kletterte, um der Zudringlichkeit der Menschen zu entkommen – überall waren Menschen, wo zuvorkeine gewesen waren. Er nahm seine Mahlzeiten allein in seinem Zimmer ein und hortete die Reste, und wenn er nass wurde – vom Regen oder vom Wasser des Zierteichs, in den die anderen Kinder ihn mit Vorliebe jagten –, hatte er die irritierende Gewohnheit, sich mit Asche aus dem Kamin abzutrocknen, so dass er wie ein im Haus spukendes Gespenst wirkte. Er riss das Stroh aus seinem Bett, weigerte sich zu baden und verrichtete seine Notdurft wie zum Trotz neben dem Nachttopf. Zweimal hatte er Monsieur Guérin, den sanftmütigen alten Hausmeister des Instituts, angegriffen und ihm Bisswunden beigebracht. Sicard und seine Mitarbeiter gaben ihn als hoffnungslosen Fall auf. Man erwog sogar, ihn nach Bicêtre zu schicken, wo er mit den Schwachsinnigen und Verrückten weggesperrt werden würde, und vielleicht wäre das auch geschehen, wenn es nicht ein schlechtes Licht auf Sicard geworfen hätte, der ja immerhin darauf bestanden hatte, dass der Junge nach Paris gebracht wurde. Im Herbst des Jahres 1800 war man an einem toten Punkt angelangt.
    Zu dieser Zeit trat ein junger, eben erst approbierter Arzt vom Hospital Val-de-Grâce seine Stelle am Institut an. Er hieß Jean-Marc Gaspard Itard, war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte in Marseille studiert und anschließend seine praktische Ausbildung in Paris absolviert. Er bekam eine Wohnung im Hauptgebäude und ein bescheidenes, ein sehr bescheidenes Gehalt von sechsundsechzig Francs pro Jahr. Zum erstenmal begegnete er dem wilden Kind, als er eine Bisswunde am Unterarm einer Schülerin verband und erfuhr, der Missetäter sitze noch immer im kahlen Wipfel der großen Ulme, die den Hof überragte, und weigere sich herunterzukommen. Selbstverständlich hatte Itard von dem Jungen gehört – das hatte jeder in Paris, undSicard selbst hatte ihn nebenbei erwähnt und als fehlgeschlagenes Experiment bezeichnet –, und nun ging er zornig und verstört hinaus in den schneidenden Wind, um ihn zur Rede zu stellen.
    Der Hof lag verlassen da; am Himmel verblasste das Licht. Es herrschte klirrende Kälte: Pfützen gefroren auf den Straßen, die Menschen hüllten sich in Mäntel und Schals und stießen Dampfwölkchen aus. In

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