Das wilde Kind
man ihm das Paradies zeigte, die grünen Hügel, die unendliche Weite der Erde, die Werke derNatur, würde ihm all das nichts bedeuten, wenn es nichts Essbares enthielte.«
Der Junge begann nach und nach, sich anzupassen. Seine Nahrung verdankte er jetzt nicht mehr einem Loch in der Erde, einem zufällig entdeckten Aas oder der Begegnung mit einem wilden Ding, das langsamer war als er, sondern diesen Tieren, die ihn gefangen hatten, seltsamen Tieren mit groben Gesichtern und Schnauzen, mit eigenartigem weißem Fell auf dem Kopf und einer haarlosen zweiten Haut an den Beinen. Irgendwann war er bei dem, der über ihn zu bestimmen hatte und dem alle anderen gehorchten, und aus einem Impuls heraus griff er nach dem Pelz des Mannes, nach diesem weißen Schimmern, und war überrascht, als das Haar sich von dessen Kopf löste und von seinen Fingern baumelte. Der Mann – sein großes, gerötetes Gesicht, die Adern, die wie Regenwürmer den Hals hinaufkrochen – fuhr mit einem Schrei von seinem Stuhl hoch und wollte es ihm wieder entreißen, aber der Junge war zu schnell für ihn, sprang hierhin und dorthin und stieß heulende Laute aus angesichts dieses Dings, dieses Pelzes, der nach Moschus und dem staubigen weißen Zeug roch, das ihm seine Farbe verlieh. Quakend verfolgte der Mann ihn, und der Junge rannte entsetzt zu dem Stein, der durchsichtig war, so dass man nach draußen auf den Hof sehen konnte. Es war Glas, auch wenn er das nicht wissen konnte, und es war ein sehr wichtiger Bestandteil der Wände seines Gefängnisses. Der Mann schrie. Der Junge rannte. Und der Stein zerbrach und biss ihn in den Unterarm.
Sie verbanden seine Wunde mit Stoff, doch den riss er mit den Zähnen ab. Er kannte Blut und Schmerz und vermied Dornenranken, Wespennester und die schuppigenSteine an den Berghängen, die verrutschen und mit hirnloser Wildheit seine Knöchel zerschneiden konnten, aber dies war ein völlig neues Phänomen: Glas. Eine von Glas gemachte Wunde. Das verwunderte ihn, und als niemand hinsah, nahm er eine Scherbe und fuhr damit über seinen Finger, bis der Schmerz wiederkam und Blut hervorquoll, und er drückte und drückte an dem Schlitz in seiner Haut herum, um das dunkle, pulsierende, schmerzhafte Rot zu sehen. Am Abend, kurz vor dem Essen, zog er den anderen Mann an der Hand, den, der nach Mist und Erde roch, bis er ihn schließlich auf den Hof ließ; sobald die Tür geöffnet war, rannte der Junge zur Mauer und erkletterte sie mit ein, zwei verzweifelten Sprüngen, und dann war er auf der anderen Seite und rannte und rannte.
Sie fingen ihn wieder ein, am Rand des Waldes. Er wehrte sich mit Zähnen und Klauen, aber sie waren größer und stärker als er und trugen ihn zurück, wie sie es immer getan hatten und immer tun würden, denn es gab keine Freiheit, jetzt nicht mehr. Er war jetzt ein Wesen der Wände und Zimmer, ein Sklave des Essens, das sie ihm gaben. Und an jenem Abend gaben sie ihm nichts, weder zu essen noch zu trinken, und sperrten ihn in den Raum, wo er nachts schlief, obwohl er gar nicht schlafen, sondern essen wollte. Er nagte am Türspalt, bis seine Lippen bluteten und das Zahnfleisch sich schmerzhaft zusammenzog. Er war nicht mehr wild.
Als sie ihn nach Paris brachten, als der Innenminister schließlich zugunsten Sicards entschieden und angeordnet hatte, den Jungen in die Stadt des Lichts zu bringen, fuhr er mit Bonnaterre und dem Gärtner, der in Rodez auf ihn aufgepasst hatte, durch fremde Landschaften. Anfangsweigerte er sich, in den Wagen zu steigen: Sobald man ihn zur Tür hinausführte und er das Gefährt und die drei riesigen, stinkenden Zugpferde mit ihren unglaublichen Beinen und den starrenden Augen dort stehen sah, wollte er davonrennen, doch der Mann hatte das vorhergesehen und auf dem Sitz ein wahres Füllhorn von Kartoffeln, Rüben und kleinen, harten Broten arrangiert, und seine Schwäche verleitete ihn, die Stufe zu erklettern und sich in den Wagen zu kauern. Als Vorsichtsmaßnahme gegen etwaige Missgeschicke hatte Bonnaterre den Gärtner angewiesen, an dem Strick, den der Junge um die Taille trug, eine Leine zu befestigen, ein einfaches Tau, das der Abbé lose in der Hand hielt, wenn die Postkutsche haltmachte, um weitere Passagiere aufzunehmen. War dies eine Leine, wie man sie etwa einem Hund anlegen würde? Das war eine interessante Frage mit gewissen philosophischen und moralischen Implikationen – Bonnaterre jedenfalls nannte das Tau nicht so, ebensowenig wie der Gärtner
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