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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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eifrige junge Mann es nicht schaffte, den Wilden zu zivilisieren, ihm Sprechen und gesellschaftsfähiges Betragen beizubringen – und Sicard war überzeugt, dass er es nicht schaffen würde –, so würde nichts davon auf ihn, Sicard, zurückfallen. Im Grunde war er sogar ein wenig erleichtert, nun nicht mehr verantwortlich zu sein. Und wenn es dem Wilden tatsächlich auf wunderbare Weise gelang, sich diemenschliche Sprache anzueignen, so würde das ein positives Licht auf das ganze Institut werfen. Sicard hatte sogar eine flüchtige Vision des Jungen, wie er, anständig gekleidet, neben Massieu vor einem Publikum stand und geistreich über sein früheres Leben reflektierte, etwa indem er rohe Knollen als la nourriture des animaux et des Belges bezeichnete. Doch nein, das würde nie geschehen. Und es war am besten, die Schuld daran einem anderen aufzuladen. Dennoch konnte er eine staatliche Rente in Höhe von jährlich fünfhundert Francs erwirken. Dieses Geld war für den Lebensunterhalt und die Erziehung des Jungen sowie zur Finanzierung des einzigartigen Experiments bestimmt, das Itard vorhatte. Er wollte die Thesen von Locke und Condillac überprüfen: War der Mensch bei seiner Geburt eine tabula rasa , ungeformt und ohne Ideen, bereit, von der Gesellschaft beschrieben zu werden, erziehbar und imstande, auf dem Weg zur Vervollkommnung voranzuschreiten? Oder stellte die Gesellschaft, wie Rousseau behauptete, einen verderblichen Einfluss dar und nicht das Fundament alles Richtigen und Guten?
    Während der nächsten fünf Jahre war Itard sieben Tage pro Woche bestrebt, die Antwort auf diese Fragen zu finden.

    Dem Jungem behagte das neue Regiment nicht recht. Einerseits genoss er die Tatsache, dass Madame Guérin und Itard ihn vor der Meute der Taubstummen beschützten, die ihm ständig an den Kragen wollten, und wusste die nie zur Neige gehenden Vorräte im Küchenschrank der Guérins zu schätzen, doch andererseits wehrte er sich vehement gegen alle Versuche des Arztes, ihn zu lenken. Er hatte zugenommen, war weicher und hellhäutiger geworden(nachdem er nicht mehr dem Leben im Wald und den Sonnenstrahlen ausgesetzt war, erwies sich, dass seine Haut so hell wie die eines jeden anderen Kindes war), und eigentlich wollte er immer nur in einer Ecke seines Zimmers hocken und sich vor und zurück wiegen oder am Ufer des Zierteichs sitzen und die Lichtreflexe auf dem Wasser betrachten. Doch plötzlich suchte dieser Mann mit dem insistierenden Blick und der spitzen Nase ihn ununterbrochen heim, verfolgte ihn in sein Zimmer, um ihm auch dort zuzusetzen, und ließ ihn nicht einmal bei Tisch in Ruhe, sondern griff ein, wenn er das Essen horten wollte: die Würste, die er zu lieben gelernt hatte, die in Öl gebratenen Kartoffeln, die zu einem Eintopf gekochten Saubohnen, das Brot, noch warm vom Ofen.
    Ausnahmslos jeden Tag musste er nun bestimmte Dinge tun. Das fiel ihm um so schwerer, als Itard ihn in den ersten Wochen hatte tun lassen, was immer ihm beliebte: Sie hatten lange Spaziergänge im Park unternommen, er hatte jederzeit essen dürfen, was er wollte, und sich zu jeder Tages- oder Nachtzeit in seine Ecke hocken oder auf dem Boden zusammenrollen und schlafen können, und das war dem Jungen wie das Paradies vorgekommen, denn er war der Anführer gewesen, seine Launen waren Itards Launen gewesen, und mit Itard an seiner Seite brauchte er von den Taubstummen nichts zu befürchten, nicht einmal von dem dünnen, gewandten Jungen, der sich immer von hinten an ihn anschlich, um ihm Ohrfeigen zu geben oder ihn zu Boden zu reißen und sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihn zu legen, bis er keine Luft mehr bekam. Jetzt war Itard für ihn da – er beschützte ihn, doch er begann auch, ihn sehr langsam und subtil nach seinem Willen zu formen. Eines Morgens, als der erste Schnee fiel, als das ganze Institutin Schlaf gehüllt war und alle Geräusche durch die lautlose, stete Anhäufung der Schneemassen gedämpft waren, erwachte der Junge mit jubilierender, pulsierender Freude und rannte nackt die Treppe hinunter in den Hof, wo er das Gesicht zum Himmel reckte, beim Anblick der sich herabsenkenden Wirbel unberührter Kristalle lautlos schrie und sich, unempfindlich gegen die Kälte, in den Schneewehen wälzte. Niemand versuchte, ihn zu hindern. Die steinernen Gebäude waren wie Klippen, die sich dem stürmischen Himmel entgegenreckten. Bilder erschienen in der Luft und zerstoben wieder, Visionen zeigten sich hier im Hof, sie

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