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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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–, und während der Junge sich auf dem Sitz vor und zurück wiegte und auf den Boden übergab, hielt der Abbé es mit den Fingerspitzen fest. Der Wagen schaukelte, der Gärtner machte sich so klein wie möglich, Bonnaterre sah starr geradeaus. Und als an einem Marktflecken am Weg eine bleiche, eindrucksvolle Dame mit ihrer Zofe zustieg, versicherte er ihr wortreich, das Kind stelle keineswegs eine Gefahr dar, und die Leine diene lediglich seiner Sicherheit.
    Dennoch gelang es dem Jungen (er war jetzt größer und schwerer und eigentlich kein Kind mehr), für Aufsehen zu sorgen, als sie abends an einem Gasthof hielten. Der Kutscher öffnete der Dame den Schlag, und im selben Augenblick zog der Junge ganz unvermittelt an der Leine und entriss sie dem Abbé. Er benutzte die Röckeder Dame als Trittstein, sprang aus der Kutsche und rannte in seiner eigenartigen, schiefen Haltung mit großen Sprüngen die Straße entlang davon. Die Leine schleifte hinter ihm im Staub. Die Dame glaubte, angegriffen zu werden, und stieß einen Schrei aus, der die Pferde erschreckte, so dass sie sich in Bewegung setzten, während Bonnaterre und sein Gärtner aus dem Wagen kletterten, um den Jungen zu verfolgen, und der Knecht die Pferde zu beruhigen suchte. Wie man sich vorstellen kann, war der Abbé nicht in der Verfassung für Wettläufe auf holprigen Landstraßen, und er war noch keine zehn Meter weit gekommen, als er vornübergebeugt und keuchend stehenbleiben musste.
    Diesmal jedoch schien der Junge zur allgemeinen Erleichterung keinen Fluchtversuch zu unternehmen, sondern hielt nach etwa hundert Metern an einem mit Wasser gefüllten Graben neben der Straße von allein inne. Bevor irgend jemand ihn daran hindern konnte, warf er sich flach auf die Erde und begann zu trinken. Die Wasseroberfläche war mit Entengrütze, Algen und Straßenstaub bedeckt. Schnaken ließen sich auf seinen nackten Armen und Beinen nieder. Sein Hemd war schlammverschmiert. Bonnaterre und der Gärtner standen bei ihm und machten ihm Vorhaltungen, doch er beachtete sie nicht: Er war durstig, er wollte trinken. Als er seinen Durst gelöscht hatte, stand er auf und defäkierte an Ort und Stelle (eine weitere Kuriosität: Er defäkierte im Stehen und ging in die Hocke, um Wasser zu lassen), wobei er unbekümmert den Saum seines Hemds beschmutzte. Und dann, als wäre das noch nicht genug, griff er blitzschnell nach etwas, das sich an ein Schilfrohr klammerte, und steckte es in den Mund, bevor die beiden eingreifen konnten: Es war ein Frosch, bereitszu Brei zerkaut, als es dem Gärtner gelang, den Mund des Jungen gewaltsam zu öffnen.
    Danach ließ er sich fügsam ins Gasthaus führen, wo er sich in den hintersten Winkel des für ihn bestimmten Zimmers setzte und gurgelnd und schmatzend über seinem Sack voller Wurzeln und Knollen saß, offenbar zufrieden und ohne nach irgendeiner Gesellschaft zu verlangen. Es dauerte nicht lange, und die Dorfbewohner erfuhren von seiner Ankunft und drängten sich für den Rest des Abends in der Gaststube, in der Hoffnung, einen Blick auf ihn zu erhaschen: Die Leute lärmten am Eingang und gingen im Korridor auf und ab, Hunde jaulten, die ganze Nachbarschaft war in Aufruhr. Er hockte in seiner Ecke, das Gesicht zur Wand gekehrt, doch das Lärmen hielt bis lange nach Einbruch der Dunkelheit an. Und je weiter er und seine beiden Begleiter sich der Hauptstadt näherten, wo der Einfluss der Zeitschriften am größten war, desto größer und fordernder wurden die Menschenmengen. Eigentlich gegen seine eigene Absicht und die strenge Anweisung des Innenministers, den Jungen unversehrt und unverzüglich nach Paris zu bringen, wollte Bonnaterre den Menschen, denen sie unterwegs begegneten, wenigstens einen kurzen Blick auf dieses wunderliche Wesen gewähren. Und er fühlte sich dabei nicht wie ein Jahrmarktschreier oder ein schwertschluckender Zigeuner oder dergleichen – nein, er war ein Wissenschaftler, der das Objekt seiner Studien präsentierte, und wenn sein Besitzerstolz ihm das wohlige Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein und Autorität zu genießen – nun, dann war es eben so.
    Möglicherweise lag es an dem Kontakt mit so vielen Menschen oder dem Einatmen der Nachtluft und der Miasmen über den Straßengräben, aus denen er zu trinkenpflegte – jedenfalls erkrankte das Kind unterwegs an den Pocken und musste zehn Tage im Hinterzimmer eines Gasthauses gepflegt werden. Die Pusteln brachen aus, und er zitterte und brannte abwechselnd

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