Das wilde Kind
seiner Eile hatte Itard seinen Mantel vergessen – er trug nur eine Jacke –, und sogleich begann er zu frieren. Er eilte über den verdorrten Rasen zu der Ulme, die sich als dunkle Silhouette von dem mit blassroten Schlieren durchzogenen Himmel abhob. Zunächst konnte er in dem Gewirr der glatten schwarzen Zweige, die im Wind träge aneinanderschlugen, nichts erkennen, doch dann stob mit heftig flatternden Flügeln eine Taube auf, und dort war der Junge, ein weißer Schimmer, der sich weit oben wie ein Pilz an den Stamm schmiegte. Itard trat näher und ließ ihn nicht aus den Augen, bis er über etwas Schattenhaftes zu seinen Füßen stolperte. Als er sich bückte, sah er, dass es sich um ein einfaches graues Hemd handelte, das Gewand des Jungen, das dieser, gleichsam als Nachgedanken, hinuntergeworfen hatte.
Dann war er also nackt, der Wilde saß nackt dort oben im Baum und hatte ein Mädchen gebissen. Itard hätte ihm beinahe den Rücken gekehrt. Soll er doch frieren, dachte er, das Tier. Wenn er es so will, dann soll er doch frieren. Aber dann richtete er den Blick wieder nach oben und sah mit unvermittelter Klarheit das spitze, ausdruckslose Gesicht des Jungen, die dunkle Leere in seinen Augen, die bleichen, ausgestreckten Glieder, und für einen Augenblick verließ er seinen eigenen Körper und schlüpfte in den des Jungen. Was musste es für ein Gefühl sein, ausgesetztund in die Kehle geschnitten zu werden, eingefangen und eingesperrt zu werden und sich nur dadurch wehren zu können, dass man seine Zähne in den schwächsten und langsamsten Folterknecht schlug? Was für ein Gefühl war es, die Kleider abzuwerfen, gleichgültig gegenüber der Kälte? Sich zu ducken und zu verstecken und zu hungern? Ganz langsam und mit Bedacht zog Itard sich an einem Ast empor und begann zu klettern.
Als erstes sorgte Itard dafür, dass Madame Guérin, die Frau des Hausmeisters, sich mit weiblich milder Hand um den Jungen kümmerte und ihn bemutterte. Fortan sollte er seine Mahlzeiten in ihrer Wohnung einnehmen, in Gesellschaft von Monsieur Guérin, der, dessen war Itard gewiss, im Lauf der Zeit zu einer freundlicheren Einstellung ihm gegenüber finden würde. Madame Guérin war in den Vierzigern, eine untersetzte, robuste Frau, die ursprünglich zum Bauernstand gehört hatte, jetzt aber, wie alle anderen Untertanen der Republik, Bürgerin war. Sie war vollbusig und breithüftig und trug ihr volles, ergrauendes Haar zu einem Knoten gebunden. Ihre eigenen Kinder, drei Mädchen, die bei ihrer Schwester auf einem Bauernhof in Chaillot lebten, besuchte sie, sooft sie konnte.
Itard war unverheiratet und kümmerte sich intensiv um die ihm anvertrauten taubstummen Zöglinge. Er war ehrgeizig und wollte sich beweisen, und er sah in dem Jungen etwas, das andere nicht bemerkten. Hoch oben in den Ästen der Ulme – die Stadt breitete sich unter ihm aus, die Flugbahnen der Vögel kreuzten sich über den Hausdächern – streckte er im kalten Wind die Hand aus und sprach beschwichtigend, lockend, mit leiser Stimme, bis der Junge sie ergriff. Itard versuchte nicht, das Kind zu sich zu ziehenoder irgendwie sonst einen Druck auszuüben – das wäre viel zu gefährlich gewesen; jede plötzliche Bewegung hätte einen von ihnen abstürzen lassen können. Er hielt einfach die Hand des Kindes und ließ es auf denkbar elementare Weise seine Wärme spüren. Nach einer Weile richtete es seinen Blick auf ihn, und er fand darin eine ganze Welt, vielleicht verschlossen und verborgen, aber dennoch vorhanden. Er sah Intelligenz und Bedürftigkeit. Und da war noch mehr: eine Art Handel, ein Vertrauen, das ganz automatisch entstand, denn sie wussten beide, dass nicht einmal der gewandteste Taubstumme es gewagt hätte, dem Wilden auf den Baum zu folgen. Als Itard schließlich die Hand des Jungen losließ und auf den Boden wies, schien dieser ihn zu verstehen und folgte ihm hinunter. Alle Bewegungen, mit denen ihre Hände und Füße Halt suchten, liefen synchron ab. Am Fuß des Baums streckte Itard abermals die Hand aus, und der Junge nahm sie und ließ sich zurück in das große Steingebäude führen, die Treppe hinauf, in sein Zimmer und zu dem Feuer, das Itard entzündete. Lange knieten die beiden auf den rohen Dielen vor dem Kamin und wärmten ihre Hände, während draußen der Wind ans Fenster peitschte und die Nacht herabfiel wie eine Axt.
Sicard erteilte Itard die Erlaubnis, mit dem Jungen zu arbeiten. Was hätte er sonst tun sollen? Wenn der
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