Das wilde Kind
zeigten sich ihm, nur ihm allein. Doch dann spürte er etwas, eine Präsenz, und sah sich um, und da war der Mann, Itard, in Mantel und Schal gehüllt, die dunklen Locken, die Brauen, die Wimpern färbten sich weiß, die Nase stand spitz vor.
Am nächsten Tag begann das Regelmaß, und ganz langsam zog sich der Himmel zurück.
Es begann damit, dass Itart den Jungen gleich nach dem Frühstück in ein warmes Bad steckte. Es dauerte mehr als drei Stunden, Madame Guérin wärmte einen Topf Wasser nach dem anderen, der Junge planschte, tauchte unter, spritzte, spielte wie jedes andere Kind, das sich, in Wärme geborgen, frei ausdrücken konnte – doch dieses Bad hatte einen Zweck, einen zivilisierenden Zweck, und die Tatsache, dass der Junge anschließend sauber und frei von üblen Gerüchen war, war bloß ein Nebeneffekt. Itard verfolgte nämlich das Ziel – und diese Bäder fanden einen Monat lang täglich statt –, diesen Wilden zu sensibilisieren, ihm seinen Körper, sein Ich, auf eine Weise bewusstzumachen, wie sie im Leben eines Tiers unmöglich gewesen wäre. Täglich wurde der Junge nach dem Bad für eineStunde massiert; Itard und Madame Guérin strichen abwechselnd über seine Gliedmaßen, seinen Rücken, beruhigten ihn, verschafften ihm Genuss, ließen ihn an einer Erfahrung teilhaben, wie er sie noch nie erlebt hatte: Er wurde von einem anderen Lebewesen berührt, und in dieser Berührung war weder Angst noch Gewalt. Tatsächlich dauerte es keinen Monat, und er bekam einen Wutanfall, wenn das Wasser nicht warm oder der Druck der massierenden Hände nicht fest genug war, und er musste nicht mehr aufgefordert werden, sich etwas anzuziehen, denn nun spürte er, wie jedes andere domestizierte Wesen, die Kälte, und es gab keinen Weg zurück. Ebenso verhielt es sich mit dem Essen. Der Wilde, der sich von rohen Wurzeln und Knollen ernährt hatte, der Kartoffeln aus dem Feuer gezogen, Insekten verschlungen und Nagetiere mit den Zähnen zerfetzt hatte, verschmähte nun einen Teller, wenn sich im Essen etwas befand, das er nicht mochte, oder wenn ein silbrig schimmerndes langes Haar von Madame Guérin darauf lag.
Auch andere Dinge zeigten, dass sein Bewusstsein sich schärfte. Er lernte, einen Löffel zu benutzen, anstatt die Kartoffeln mit unempfindlichen Händen aus dem kochenden Wasser zu fischen. Er erkannte sich in einem Handspiegel und verstand es, diesen so zu halten, dass das Licht von einer Ecke des Zimmers zur nächsten sprang. Seine Finger erkundeten die Weichheit von Madame Guérins Röcken und die herrlichen Rippen des Cordstoffs von Itards Anzügen. Als er zum erstenmal erkältet war und – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben – niesen musste, war er entsetzt und rannte zu seinem Bett, um sich unter der Decke zu verstecken aus Angst, sein eigener Körper greife ihn an. Aber dann nieste er wieder und wieder, Itardstand am Bett murmelte etwas Beruhigendes, und es dauerte nicht lange, da spürte er das Niesen, wenn es kam, und überließ sich ihm, er nieste übertrieben laut und lachte und sprang im Raum herum, als würde er von einem Wind in seinem Inneren herumgewirbelt.
Dann – und hier begann der Junge unter den Anforderungen des Lehrers zu stöhnen – begann die zweite Phase, die seinen Blick fokussieren und sein Hörvermögen auf dieselbe Weise schärfen sollte, wie Geschmackssinn und Körperempfindung angeregt worden waren. Bis dahin war sein Gehör selektiv gewesen, er hatte nur auf Geräusche reagiert, die mit Essen zu tun hatten, auf das Klappern eines Löffels in einer Schüssel, das Zischen der Flamme unter dem Topf, das Knacken einer Nuss, doch menschlicher Sprache schenkte er – abgesehen vom Tonfall, wenn Itard oder die Guérins die Geduld verloren oder ihn vor etwas warnen wollten, an dem er sich verletzen konnte – keinerlei Beachtung. Sprache war für ihn eine Art Hintergrundmusik, nicht anders als das unverständliche Gezwitscher der Vögel im Wald, das Muhen einer Kuh, das Bellen eines Hundes. Itard wollte ihm das Sprechen durch Nachahmung beibringen, denn auch kleine Kinder erwarben ja ihren Wortschatz dadurch, dass sie nachsprachen, was ihre Eltern sagten. Er zerlegte die Sprache in einfache Vokale und Konsonanten und wiederholte diese immer wieder, in der Hoffnung, der Junge werde den entsprechenden Laut nachahmen, und stets hielt er Objekte hoch – ein Glas Milch, einen Schuh, einen Löffel, eine Kartoffel – und benannte sie. Der Blick des Jungen wich dem seinen
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