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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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vor Fieber. Man brachte Decken, der örtliche Arzt wurde konsultiert, man erwog Abführmittel und Aderlass, und Bonnaterre war außer sich – für ihn ging es um Kopf und Kragen. Vielleicht sogar buchstäblich. Der Innenminister war Lucien Bonaparte, ein Bruder Napoleons, bekannt für seine Strenge und Genauigkeit. Ihm den Leichnam eines wilden Kindes zu präsentieren wäre so gewesen, als brächte man ihm das bereits verbleichte Fell eines seltenen afrikanischen Urwaldtiers, dessen Gestalt nicht einmal mehr zu erahnen war. Der Abbé kniete am Lager des zugedeckten, sich hin und her wälzenden, schwitzenden Kindes nieder und betete.
    Der Junge taumelte zwischen Schlafen und Wachen, er sah die Wände zurückweichen und das Dach verschwinden, so dass er Sterne und Mond erblickte, und dann hüpfte er über eine Wiese, während der Midi die Bäume schüttelte, bis sie sich wie Grashalme bogen, und er lachte laut und rannte und rannte. Er blickte zurück in die Vergangenheit, sah die Stellen, wo er sich den Bauch mit Beeren vollgeschlagen hatte, sah den Weinberg und die Reben und den Keller, in dem ein Bauer seine frisch geernteten Kartoffeln gelagert hatte. Dann sah er die Kinder, die Dorfjungen mit ihren flinken Beinen, die ihn im Wald entdeckt und verfolgt hatten, die Steine und Stöcke nach ihm geworfen und deren spitze, scharfe Schreie ihm in den Ohren gegellt hatten, er sah die Männer und das Feuer und den Rauch und schließlich den Raum, in dem er lag: Die Wände rückten wieder zusammen, und das Dach erschien undverdeckte den Himmel. Er hatte Hunger. Durst. Er setzte sich auf und warf die Decken von sich.
    Drei Tage später war er in Paris, auch wenn er es nicht wusste. Er wusste nur, was er sah, hörte und roch. Er sah Gewimmel, er hörte Chaos, und was er roch, stank schlimmer als alles, was er in den auf den Feldern und in den Wäldern von Aveyron verbrachten Jahren gerochen hatte: Es war der konzentrierte, stechende Gestank der Zivilisation.

5

    Das Institut für die Taubstummen stand auf einigen Morgen Land am Boulevard Saint-Michel, nicht weit vom Jardin du Luxembourg. Früher war es ein katholisches Priesterseminar gewesen – die revolutionäre Regierung hatte es dem Abbé Sicard für die Ausbildung und Förderung der Taubstummen überlassen. Der Abbé bediente sich im Umgang mit den Zöglingen einer von seinem Vorgänger de l’Epée übernommenen Gebärdensprache und hatte Berühmtheit erlangt durch die erstaunlichen Veränderungen, die er bei mehreren seiner Schutzbefohlenen bewirkt hatte: Aus praktisch hoffnungslosen Fällen waren produktive Bürger geworden, die nicht nur ihre Wünsche und Bedürfnisse mitzuteilen, sondern auch philosophische Themen zu erörtern vermochten. Einer von ihnen, ein wohlgestalteter junger Mann namens Massieu, stand bei einigen öffentlichen Demonstrationen, in deren Verlauf Sicards Schüler zeigten, wie gut sie sprechen und schreiben gelernt hatten, im Mittelpunkt des Interesses. Vom Publikum auf Kärtchen geschriebene Fragen wurden von den Schülern beantwortet, und Massieu sprach zu diversen gelehrten Gesellschaften mit Selbstvertrauen, Würde und einem Akzent, der nicht viel schlimmer war als der eines gebildeten Ausländers. Noch erstaunlicher war,dass dieser bei seinem Eintritt in das Institut stocktaube junge Mann schließlich imstande war, in Gesellschaft zu dinieren und die anderen Gäste mit eigenen Bonmots zu unterhalten: Denkwürdig waren seine Definition der Dankbarkeit als la mémoire du cœur und seine Unterscheidung zwischen Sehnsucht und Hoffnung: »Sehnsucht ist ein Baum voller Laub, Hoffnung ist ein Baum voller Blüten, und Freude ist ein Baum voller Früchte.« Als Bonnaterre das wilde Kind an Sicard übergab, erwartete daher ganz Paris das Resultat, das Wunder, das gewiss eintreten würde, wenn der Junge die Fähigkeit zu sprechen und die Gabe der Zivilisation empfangen würde; man hoffte, auch er werde eines Tages vor einem faszinierten Publikum stehen und die Gedanken und Gefühle schildern, die er während seines Lebens als Tier gehabt hatte.
    Leider sollte es anders kommen.
    Nach der anfänglichen Aufregung, nachdem die Gaffer sich zerstreut hatten und die halbe Pariser haut monde die Stufen in den vierten Stock des Instituts hinaufgestiegen war, um zuzusehen, wie der Junge sich in der Ecke seines Zimmers vor und zurück wiegte, nachdem er zu einer privaten Unterredung in die Gemächer des Innenministers gebracht worden war (wo er in einer Ecke

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