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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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dem Besuch entwarf Itard diverse Spiele und Strategien, um Victor beizubringen, wie er sich vor einer Dame zu verbeugen hatte – mit wechselndem Erfolg.
    An dem bewussten Abend nahmen sie eine Droschke.Victor hatte seine Angst vor Pferden inzwischen abgelegt, streckte den Kopf aus dem Fenster, schrie auf dem ganzen Weg vor Freude und schreckte Passanten, Gendarmen und Hunde gleichermaßen auf. Durch kalten Regen fuhren sie nach Clichy-la-Garenne. Anfangs schien alles gutzugehen, die vornehme Gesellschaft machte Platz für den Doktor und seinen Zögling, den einstmaligen Wilden, der sich in Kleidung und Haltung von keinem anderen Dreizehnjährigen unterschied, auch wenn Victor sich nicht vor irgend jemandem, geschweige denn der Gastgeberin, verbeugte, von einer Ecke des Saals zur anderen trottete und sein Gesicht mit Speisen verschmierte, die nach seinem Geschmack waren: winzige, auf knusprige Brotscheiben gehäufte Fischeier, gefüllte, panierte und fritierte Pilze, kleine Singvögel, die hintereinander auf Spieße gesteckt waren.
    Madame de Récamier gab Victor den Ehrenplatz an ihrer Seite und plauderte ein wenig mit Itard, in der Hoffnung, er werde Victor wie ein Zirkusdompteur überreden, zur Unterhaltung ihrer Gäste einige Kunststücke vorzuführen. Doch Victor führte keine Kunststücke vor. Victor beherrschte keine Kunststücke. Victor war stumm, nicht imstande – oder nicht willens –, seinen eigenen Namen zu sagen, und obendrein nicht im mindesten empfänglich für Madames legendäre Schönheit und ihre vielgepriesenen Augen. Nach einer Weile wandte sie sich dem Gast an ihrer anderen Seite zu, und dann unterhielt sie den ganzen Tisch mit einer detaillierten Geschichte über den Maler, der sie kürzlich in Öl porträtiert hatte: wie er sie, in einer bestimmten Pose erstarrt, hatte Modell sitzen lassen und nicht einmal erlaubt hatte, dass eine der Zofen ihr vorlas, weil er fürchtete, das könne ihrer Konzentrationabträglich sein. Die Langeweile, die sie hatte ertragen müssen. Die Qual. Was für ein Unmensch dieser Maler war. Und auf eine Geste von ihr sahen alle auf, und da war es, wie ein Wunder, an der Wand hinter ihnen: das Porträt der unvergleichlichen Madame de Récamier – liegend, die Füße aufreizend nackt, auf dem Gesicht ein würdevoller und doch verführerischer Ausdruck. Itard war hingerissen. Und er wollte etwas sagen, er suchte nach den rechten Worten, es sollte etwas Charmantes, Bedeutsames sein, das über die selbstzufriedenen Banalitäten der anderen Gäste hinausging, doch in diesem Augenblick ließ ein Krachen, als wäre eine kostbare Statue zerbrochen, die Gesellschaft verstummen.
    Das Geräusch war aus dem Garten gekommen, ihm folgte nun ein zweiter, ebenso lauter Knall. Itard sah zu Madame Récamier, die zu dem leeren Platz an ihrer Seite sah, und zugleich rief einer der Herren der Gesellschaft am anderen Tischende: »Sehen Sie nur, der Wilde – er versucht zu fliehen!« Sofort brach ein Tumult aus: Die Männer sprangen auf und drängten durch die Türen, um die Verfolgung aufzunehmen, die Damen versammelten sich an den Fenstern und fächelten sich heftig Luft zu, um nicht vor Aufregung in Ohnmacht zu fallen, die Diener rückten hilflos die verlassenen Stühle zurecht, und die Gastgeberin bemühte sich, den Eindruck zu machen, als sei dies alles Teil der vorbereiteten Abendunterhaltung. Entsetzt, verwirrt sprang Itard auf und stieß dabei den Stuhl um, seine Rechte umklammerte die Serviette, als wäre es eine Rettungsleine. Er erstarrte. Er wusste nicht, was er tun sollte.
    Als er zur Besinnung kam, rannte Victor im Zickzack über den Rasen, verfolgt von einem Dutzend Männern mit Perücken, spitzenbesetzten Hemden und Schnallenschuhen.Schlimmer noch: Der Junge entledigte sich im Laufen seiner Kleider. Er streifte die Jacke ab, riss das Hemd mittendurch, schleuderte Schuhe und Strümpfe von sich. Wenige Augenblicke später war er, trotz der warmen Bäder, der Massagen und der Sensibilisierung, so nackt wie an jenem Tag, an dem er aus dem Wald hinaus in die Welt getreten war – nackt kletterte er wie ein Urwaldaffe am Stamm einer Platane empor. Wie in Trance ging Itard hinaus, die Rufe prominenter Bürger – darunter der ehrwürdige General Jean Moreau, der zukünftige König von Schweden und Norwegen, Jean-Baptiste Bernadotte, sowie der alte Monsieur de Récamier selbst – klangen ihm in den Ohren. Unter den Augen der gesamten Abendgesellschaft stand er am Fuß des Baums

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