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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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und beschwor Victor herunterzukommen, bis ihm schließlich nichts anderes übrigblieb, als ebenfalls die Jacke auszuziehen und den Baum zu erklettern.
    Die Demütigung dieses Abends blieb Itard lange im Gedächtnis, und obgleich er es nicht zugegeben hätte, beeinflusste sie während der nächsten Wochen und Monate seine Haltung gegenüber Victor. Itard zog die Schrauben an. Er duldete die Ausbrüche, mit denen Victor nur zu oft dem Unterricht ein Ende setzte, nicht mehr, ebensowenig wie irgendeine Abweichung vom zivilisierten Betragen, was vor allem bedeutete, dass Victor fortan stets und ausnahmslos bekleidet zu sein hatte. Er würde auch nicht mehr auf Bäume klettern – und keine Ausflüge in die Gesellschaft unternehmen. Die Gesellschaft konnte warten.
    In diesem Stadium von Victors Erziehung übte Itard mit ihm nicht nur ständig die Vokale, sondern begann auch die Methode anzuwenden, mit der Sicard seinen taubstummenSchülern Lesen, Schreiben und Sprechen beibrachte. Er wollte, dass Victor alltägliche Dinge – einen Schuh, einen Hammer, einen Löffel – einfachen Abbildungen dieser Dinge zuordnete; sobald Victor das Prinzip der Repräsentation begriffen hatte, konnte man die Zeichnungen durch sprachliche Symbole, durch Wörter also, ersetzen. Itard legte einige solche Objekte auf den Tisch in Victors Zimmer – darunter auch den Schlüssel zu Madame Guérins Speisekammer, einen Gegenstand, zu dem Victor eine besonders innige Beziehung hatte – und befestigte dann die Zeichnungen an der gegenüberliegenden Wand. Er zeigte zum Beispiel auf die Abbildung des Schlüssels und demonstrierte Victor, dass dies der Gegenstand war, den er haben wollte. Leider war Victor nicht imstande, die Verbindung herzustellen, obwohl Itard beharrlich blieb, die Zeichnungen vervollkommnete und den Jungen immer wieder aufforderte, indem er auf die Abbildung zeigte und zugleich das betreffende Wort aussprach: » La clé , Victor, bring mir la clé .« Gelegentlich brachte Victor dann das richtige Objekt, doch ebensooft war es, auch nach tausend Versuchen, der Hammer, wenn es der Schlüssel hätte sein sollen, oder der Schuh, wenn Itard um den Löffel gebeten hatte.
    Itard verfiel auf den Gedanken, seinen Schüler die verschiedenen Gegenstände von Hand zuordnen zu lassen – gewiss eine weniger komplexe Aufgabe. Er hängte jedes Objekt an einen Haken unter der entsprechenden Abbildung. Victor und er setzten sich auf das Bett und studierten das Arrangement – Schlüssel, Hammer, Löffel, Schuh –, bis Victor genug Zeit gehabt hatte, die Verbindung zwischen Objekten und Symbolen herzustellen, und dann stand Itard auf, sammelte die Gegenstände ein undreichte sie Victor, damit er sie wieder an ihren Platz brachte. Victor sah ihn lange an, mit einem sanften, gesammelten Blick, erhob sich und hängte die Dinge in der richtigen Reihenfolge auf. Dies tat er wiederholt und ohne Zögern, doch als Itard die Bilder vertauschte, blieb Victor dabei, die Gegenstände in ihrer ursprünglichen Reihenfolge aufzuhängen – er verließ sich ganz und gar auf sein räumliches Gedächtnis. Itard korrigierte ihn immer wieder, aber ganz gleich, wie er die Zeichnungen arrangierte – Victor hängte die Objekte stets dort auf, wo sie ursprünglich gewesen waren. Na gut, dachte Itard, dann werde ich es eben etwas komplizierter machen. Bald waren es ein Dutzend Gegenstände, dann fünfzehn, achtzehn, zwanzig, so viele, dass Victor sich ihre Reihenfolge nicht mehr merken konnte. Schließlich, nach Wochen des Übens, des Beharrens, des inständigen Bittens und Insistierens, war Itard zufrieden – nein, vielmehr entzückt, ekstatisch: Er sah, dass sein Schüler den Gegenstand und seine Abbildung sorgfältig verglich und dann die richtige Entscheidung traf.
    Der nächste Schritt waren die Wörter. Itard nahm wieder die ursprünglichen vier Gegenstände, schrieb ihre Bezeichnungen in deutlichen Druckbuchstaben auf – LA CLÉ, LE MARTEAU, LA CUILLER, LE SOULIER – und ersetzte damit die Abbildungen. Nichts. Es war wie zuvor: Victor stellte keine Verbindung zwischen den für ihn vermutlich willkürlichen schwarzen Strichen auf dem Papier und den greifbaren, an den Haken hängenden Gegenständen her. Er vermochte sie nur nach der Erinnerung zuzuordnen, und kein Üben und Wiederholen brachten ihm Erleuchtung. Wochen vergingen. Victor begann, sich zu widersetzen. Itard beharrte. Nichts geschah. Ratlos ging er zu Sicard.
    »Der Junge leidet unter angeborenem

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