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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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schönen Frühlingsnachmittag. Ganz Paris duftete nach Flieder und Lilien, der Südwind war so sanft und warm wie eine Hand auf einer Wange, und auf dem Zierteich des Instituts schwammen mit einemmal ganze Flotten von Entenküken, während die Taubstummen auf dem Rasen herumalberten und mit ihren hohen, angestrengten, unnatürlichen Stimmen quiekten und wieherten. Itard hatte eine besonders komplexe Konfiguration von Formen und Aussparungen ersonnen – an den Wänden hingen Zeichnungen, auf dem Tisch lagen dreidimensionale Objekte –, und er merkte, dass Victor unmutig wurde. Auch er selbst war unmutig: An diesem Morgen, wie an Hunderten zuvor, wurde Hoffnungin so knauserigen Portionen ausgeteilt, dass man glauben konnte, eher würden sich die Gletscher der Pyrenäen und der Alpen miteinander vereinen, als dass Victor eine Aufgabe löste, die ein vierjähriges Kind in einer Minute gemeistert hätte.
    Die Formen passten nicht zueinander. Victor trat zurück und warf sich mürrisch auf das Bett. Itard nahm seinen Arm und zwang ihn, aufzustehen, sich dem Problem zu stellen, wie er es den ganzen Morgen über getan hatte, und der Griff, mit dem seine eisernen Finger den weichen Oberarm des Jungen umschlossen, war ihnen so vertraut wie das Ein- und Ausatmen. Doch diesmal hatte Victor genug. Mit einer Heftigkeit, die sie beide überraschte, riss er sich los, und für einen kurzen, schwebenden Moment sah er aus, als wollte er seinen Lehrer angreifen: Er fletschte die Zähne und hob die Fäuste, bevor er seine Wut gegen die verhassten Gegenstände richtete – die Kugeln, die Pyramiden, die zweidimensionalen Formen – und sie zerfetzte. Tobend rannte er durch das Zimmer, wich Itard mit einer animalischen Gewandtheit aus, die ihn, trotz seines zunehmenden Gewichts, noch nicht verlassen hatte, warf die Fetzen aus dem offenen Fenster, sprang zum Kamin, schleuderte Asche durch den Raum und zerriss mit den Zähnen das Bettlaken. Die ganze Zeit versuchte Itard ihn festzuhalten und zu bändigen. Schließlich stieß Victor mit einer neuen, gepressten Stimme unartikulierte Laute aus, die wie der Ruf eines Aasvogels klangen, warf sich zu Boden und wälzte sich in Zuckungen.
    Der Anfall war authentisch – die Augäpfel drehten sich nach innen, er knirschte mit den Zähnen, die Zunge war blutig – und dennoch selbst herbeigeführt, und Itard, der dieselbe Szene bereits unzählige Male erlebt hatte,verlor die Beherrschung. Im Nu war er bei dem Jungen, zerrte ihn hoch und schleppte ihn zum offenen Fenster: Ein Schock, das war es, was jetzt vonnöten war, eine Kraft, die größer war als er, unerbittlich, unwiderstehlich, ein einzelner Akt der Gewalt, der ihn für immer zähmen würde. Und all dies war zur Hand. Itard packte den Jungen an den Knöcheln, stieß ihn durch das offene Fenster und ließ ihn dort hängen, fünf hohe Stockwerke über dem Boden. Victor wurde steif wie ein Brett, die Krämpfe hörten schlagartig auf, so groß war der Schock. Was wird er gedacht haben? Dass die Menschen, die ihn gefangenhielten – und besonders dieser Mann, der ihm schon immer diese seltsamen, sinnlosen Mühen aufgezwungen hatte –, nach all der Freundlichkeit und dem Zureden, nach all dem Essen, der Wärme und Geborgenheit endlich ihr wahres Gesicht gezeigt hatten. Dass dieser Lehrer mit Madame Guérin unter einer Decke steckte, dass sie ihn weich gemacht hatten, um ihn so gründlich zu vernichten, wie es die Taubstummen getan hätten, wenn man sie nur hätte gewähren lassen, und davor die gnadenlosen Jungen aus den Dörfern am Rand des Waldes. Sie hatten ihn verraten. Die Erde würde ihm entgegenspringen.
    In diesen wenigen Minuten war es Itard gleichgültig, was der Junge empfand. Der Schmerz und die Demütigung, die er an jenem Abend bei Madame de Récamier erlitten hatte, fielen ihm jäh wieder ein, all die endlosen vergeudeten Stunden, der unablässige Kampf zweier Willen, Sicards Skepsis, das scharfe Schwert des raschen Urteils der Welt und das stets in den Kulissen lauernde Versagen. Victor wimmerte. Er hatte sich in die Hose gemacht. Eine Taube, vom Nest aufgestört, flatterte vor dem Fenster. Und dann, als alles Blut in Victors Kopf war, als der Himmel ringsumzu explodieren und sich dann zu einem schwarzen Ball zusammenzuziehen schien, als die Taubstummen unten schreiend und mit Fingern zeigend stehenblieben, packte Itard fester zu und zog den Jungen wieder ins Zimmer.
    Er legte ihn nicht auf das Bett. Setzte ihn nicht auf einen

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