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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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aus. Er stellte keine Verbindung her zwischen diesen groben Lauten und dem, was sie bezeichneten, und auch nach Monaten brachte er nur eine Art dumpfes Stöhnen und das Lachenzustande, das in den eigenartigsten und irritierendsten Augenblicken in ihm erwachte. Dennoch reagierte er auf die verstümmelten Äußerungen seiner taubstummen Quälgeister – er floh vor ihnen, wie er vor jedem erschreckenden Naturgeräusch geflohen wäre, vor einem Donnerschlag oder dem Tosen eines Wasserfalls –, und eines Abends, als Itard schon die Hoffnung sinken lassen wollte, gelang ihm schließlich der erste artikulierte Laut.
    Es war im Februar, der Himmel hing grau und tief über der Stadt, in tausend Töpfen kochte das Abendessen, das ewige Rumpeln und Poltern und Brüllen der anderen Schüler war durch das Wetter und die stets vor den Mahlzeiten einsetzende Schlappheit gedämpft. Während Madame Guérin das Essen kochte, saß Itard in ihrer Küche, rauchte und beobachtete stumm den Jungen, der wie immer am aufmerksamsten war, wenn es ums Essen ging. Er stand am Herd und beaufsichtigte seine kochenden Kartoffeln. Derweil entspann sich zwischen den Guérins ein lebhaftes Gespräch über einen Bekannten, der kürzlich bei einem Unfall mit einem Wagen ums Leben gekommen war. Madame Guérin gab dem Kutscher die Schuld und sagte, er habe nicht aufgepasst, sei vielleicht sogar betrunken gewesen, während ihr Mann ihn verteidigte. Jedesmal, wenn sie etwas sagte, antwortete er: »O nein, das war anders« und stellte eine Gegenbehauptung auf. Es war dieser einfache Ausruf, der runde Vokal O, der den Jungen aufmerken ließ, als könnte er diesen Klang mit einemmal von den anderen unterscheiden. Später, als er sich bereitmachte, zu Bett zu gehen – auch hier zog er inzwischen übrigens frisch gewaschene Laken und ein Federbett dem auf kalten Dielen bereiteten Nest aus Zweigen und Abfall vor –, kam Itard zu ihm, um ihm eine gute Nacht zu wünschen undnoch einmal die Vokale vorzusprechen, denn er dachte, der Schlaf könne vielleicht dazu beitragen, diese Klänge auf der leeren Tafel seines Geistes festzuhalten.
    »Oh«, sagte Itard und zeigte auf das Fenster. »Oh«, sagte er und zeigte auf das Bett, auf seine Kehle, auf den runden, geschmeidigen Ton, der in der Luft hing.
    Zu seiner Überraschung kehrte der gleiche Ton von tief aus der Kehle des Jungen zu ihm zurück, der nun ein Nachthemd trug und am Federbett zupfte. Es gab keine religiösen Rituale, keine Gebete zu einem Gott, von dem ohnehin kein Begriff existierte; wenn der Junge müde war, zog er sich in sein Zimmer zurück und legte sich ins Bett. Doch nun lag er da und wiederholte den Laut, als wäre er fasziniert von seiner Neuheit, und Itard beugte sich erregt über ihn und sagte: »Oh, oh, oh«, bis der Junge eingeschlafen war.
    Es schien nur natürlich, dass Itard ihn, als er am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, bei seinem neuen Namen rief, dem Namen, den er selbst vorgeschlagen hatte, einem ehrwürdigen und erhabenen Namen, den viele Franzosen vor ihm stolz getragen hatten und bei dem die Betonung schwer auf der zweiten Silbe lag: Victor. Sein Name war Victor, und obgleich er den ersten Teil dieses Wortes nicht aussprechen konnte, ja vielleicht gar nicht hörte und nie hören würde, lernte er, auf den zweiten Teil zu reagieren. Er war Victor. Victor. Nach dreizehn Jahren auf dieser Welt war er endlich jemand.

6

    Etwa zu dieser Zeit erhielt Victor – oder vielmehr Itard als sein Vertreter – eine Einladung zum Salon von Madame de Récamier. Dies war eine große Chance, nicht nur für Victor, der hier die Fürsprache der mächtigsten und einflussreichsten Menschen Frankreichs erlangen konnte, sondern auch für Itard selbst, der wider besseres Wissen unrealistische Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Aufstieg hegte und sich wie jeder Mensch nach Anerkennung sehnte. Madame de Récamier war damals vierundzwanzig Jahre alt, berühmt für ihre Schönheit und ihren Geist, Ehefrau eines reichen Bankiers, der dreimal so alt war wie sie, und Herrin über ein Schloss in Clichy-la-Garenne, vor den Toren der Stadt; jeder, der irgend etwas darstellte, fand sich bei ihr ein, um ihr seine Reverenz zu erweisen und gesehen zu werden. Itard schaffte eine neue Jacke an und ließ Madame Guérin einen Anzug sowie ein Hemd mit hohem Kragen, eine Weste und ein Jabot für Victor nähen, so dass er wie die Miniaturausgabe eines Herrn der besseren Gesellschaft aussah. Eine Woche vor

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