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Das wilde Kind

Das wilde Kind

Titel: Das wilde Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Schwachsinn«, sagte der Abbé. Er saß an seinem großen Mahagonischreibtisch und streichelte einen der Kater, die auf dem Institutsgelände umherstromerten. »Er ist, so leid es mir tut, ein Idiot – und zwar nicht, weil er ausgesetzt wurde, sondern von Geburt an. Er ist ein echter Idiot, ein cretin , und das war auch der Grund, warum man ihn überhaupt ausgesetzt hat.«
    »Nein, er ist kein Idiot, da bin ich ganz sicher. Er macht Fortschritte. Ich sehe es an seinen Augen.«
    »Stellen Sie sich die Eltern vor, ungebildete Bauern, eine Vielzahl plärrender, schmutziger Kinder, die an ihnen zerren, wenig oder gar nichts im Topf, und da ist dieser Junge – dieser Victor, wie Sie ihn nennen –, der nicht spricht, nicht normal reagiert. Natürlich setzen sie ihn aus. Es ist traurig, aber so etwas passiert nun einmal im Leben, ich habe es bei meinen Taubstummen oft genug erlebt.«
    »Mit allem gebotenen Respekt, Abbé, aber er ist kein Idiot. Ich werde es beweisen. Geben Sie mir nur mehr Zeit.«
    Sicard beugte sich vor und ließ den Kater auf den Boden springen. Es war ein fettes, verwöhntes Tier, der Bruder oder Onkel oder vielleicht gar der Vater (niemand konnte sich genau erinnern) des beinahe identischen Katers, den Madame Guérin in ihrer Wohnung hielt. Als Sicard sich wieder aufrichtete, sah er Itard an und sagte ruhig: »Wie Sie es bei Madame de Récamier bewiesen haben?«
    »Nun, ich –« Das war ein Tiefschlag, auf den Itard nicht vorbereitet war. »Ich gebe zu, das war bedauerlich, aber –«
    »Bedauerlich?« Der Abbé legte die Fingerspitzen aneinander. »Der Junge stellt uns bloß – Sie, mich, das Institutund alles, was wir hier erreicht haben. Schlimmer noch: Er ist eine Beleidigung.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern: »Geben Sie auf, Itard. Geben Sie auf, solange Sie noch können. Es wird Sie zerstören, sehen Sie das nicht?«
    Aber Itard gab nicht auf. Er gab lediglich Sicards Methode auf und fing noch einmal von vorn an. Seiner Meinung nach lag Victors Problem in der Wahrnehmung, und es war größer, viel größer als bei irgendeinem der taubstummen Kinder am Institut, denn deren Fähigkeit zur visuellen Wahrnehmung war, um ihre auditorische Behinderung auszugleichen, stark ausgeprägt, so dass die Beziehung zwischen einem Ding und seiner symbolischen Darstellung ihnen sogleich einleuchtete. Sie hatten wenig Schwierigkeiten, die kleinen Abweichungen in den Konturen der Buchstaben zu erkennen, zwischen einem E und einem F, zwischen einem P und einem R zu unterscheiden, und sobald sie das System einmal erfasst hatten, konnten sie auch mit den Variationen umgehen. Victor dagegen nahm die Buchstaben eines Wortes gar nicht wahr, denn er konnte einfache Formen nicht voneinander unterscheiden. Und so kam Itard auf den Gedanken, Victor grundlegende geometrische Muster zu zeigen. Er schnitt Dreiecke, Kreise, Quadrate und Parallelogramme aus Pappe aus und gab Victor zu verstehen, er solle sie in die entsprechenden Aussparungen legen. Anfangs verstand Victor dies als eine Art Spiel, er hatte keine Mühe, die Stücke richtig einzupassen, doch dann machte Itard, angespornt von den Fortschritten des Jungen, die Übungen immer komplizierter, variierte die Formen, Farben und Abfolgen, bis Victor schließlich, wie nicht anders zu erwarten, rebellierte.
    Man stelle sich ihn vor. Man stelle sich dieses wilde Kind vor, in seinem Anzug, mit seinem neuen Namen, seinereben erst erworbenen Vorliebe für Komfort, verkörpert durch die mütterliche Madame Guérin, die ihn streichelte und tröstete, und der unablässig fordernden Vaterfigur Itard, der jede Minute des Tages mit unlösbaren, frustrierenden Aufgaben füllte wie in einem Märchen der Brüder Grimm, und man wird nicht überrascht sein, dass er zusammenbrach, dass sein ursprünglicher Geist, sein freier Geist, sein wilder Geist rebellierte. Er wollte nur ungehindert herumstreifen und in der Sonne schlafen, er wollte seinen Kopf auf Madame Guérins Schoß betten und am Tisch sitzen und essen, bis er beinahe platzte, doch jedesmal, wenn er den Blick hob, sah er Itard, seinen Schulmeister mit den strengen Augen und der missbilligenden Nase. Und obendrein, schlimmer: Die Hormonausschüttung der Pubertät veränderte seinen Körper, unter den Armen und zwischen den Beinen wuchsen krause Haare, seine Hoden wurden größer, und morgens wie abends wurde sein Glied steif, ganz von allein. Er war verwirrt. Ängstlich. Wütend.
    Die Spannung entlud sich an einem

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