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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Wimpern herum und dachte ange
strengt nach. Hauptmann Brünn war einer der Bewunderer von Herrn Stern, vielleicht der größte in der Stadt. Ihm hatte sogar der Vortrag über Gott gefallen, gerade deswegen, weil Herr Stern, auch wenn er ihm, Brünn, gegenüber nichts davon erwähnte, den Namen Gottes kein einziges Mal in den Mund genommen und doch so geistreich über ihn gesprochen hatte. Denn von dem zu sprechen, wovon man sprechen kann, ist ja leicht. Hingegen ist das, wovon wir nicht sprechen können und wovon wir dennoch sprechen, dieses Etwas ist das Wunder, der Sinn, das Nonplusultra, die Essenz des menschlichen Daseins, usw., usw. Solche Gedanken beschäftigten Hauptmann Brünn seit dem letzten Vortrag.
    Der alte Schausteller hieß Ress. Er war in die Stadt gekommen, als Herr Stern jenen letzten, ominösen Vortrag gehalten hatte. Aufgrund der Anzeige von Herrn Stern wurde der Schausteller Ress festgenommen und einem gründlichen Verhör unterzogen. Er tat so, als verstünde er nicht, was mit ihm geschah. Munter lächelnd beantwortete er alle Fragen bereitwillig, sogar die offensichtlich verfänglichen. Aber weil er nun mal ein waschechter Schausteller war, klaute er während des Verhörs mehrmals das vergoldete Zigarettenetui von Hauptmann Brünn, sein gesticktes Taschentuch, sein Kölnischwasser und einmal sogar den schweren Schlüsselbund für die Arrestzelle. Somit hätte er in der Nacht durchaus entfliehen können, doch der arme Schausteller Ress schlief, er floh nicht, weder jetzt noch später. Hätte er es doch nur getan. Ruhig und selbstsicher erwartete er das Ende der Untersuchung, als wüßte er genau, daß die Sache nur gut für ihn ausgehen könne. Es war bereits Sommer, als man den Fall abschloß. Der Galgen wurde auf
dem Hauptplatz errichtet. Aufgescheucht von dem Gehämmer, wagten sich die Tauben an diesem Tag nicht mehr auf die Steine des Platzes hinunter, sie kreisten über der Stadt und beschmutzten Passanten. Die Hinrichtung war öffentlich. Das hatte Rechtsanwalt Czernisewsky, der erkannt hatte, daß der Zustand seines Freundes allmählich kritisch wurde, erreichen können. Rechtsanwalt Czernisewsky ging kein Risiko ein. Als erstes erwirkte er mittels seiner Beziehungen, daß man über den Schausteller Ress das Todesurteil verhängte, dann setzte er auch noch durch, daß es in aller Öffentlichkeit vollstreckt wurde. Wenn es tatsächlich der Schausteller Ress war, der Herrn Sterns Wörter stahl, wofür Rechtsanwalt Czernisewsky keineswegs seine Hand ins Feuer gelegt hätte, könnte jener Vorgang, der Herrn Stern so quälte, mit dieser Exekution angehalten oder vielleicht sogar rückgängig gemacht werden. Sollte hingegen nicht der Schausteller der Schuldige sein, war ohnehin alles egal. Der Schausteller Ress wurde um zwölf Uhr mittags gehängt. Der Geruch von frischem Holz hing über dem Platz, auf dem sich die ganze Stadt neugierig drängte. Schon so lange hatte es keine Hinrichtung mehr gegeben, und an eine öffentliche konnten sich selbst die Ältesten nicht mehr erinnern. Auch Herr Stern war da, er stand in der ersten Reihe und blickte starr auf den baumelnden Strick. Der Schausteller Ress bestieg das Podest des Galgens, als wäre auch das Teil einer Vorführung. Er lächelte, sah die Leute offen und freundlich an, obwohl alle auf seinen Tod warteten. Der Schausteller Ress starb, wie er gelebt hatte. Im Augenblick seines Todes flog eine weiße Taube unter seinem Hemd hervor, beschmutzte den Umhang des Henkers und stieg zum Himmel auf, wo sie den neugierigen Blicken entschwand.
Herr Stern weinte wie ein Kind. Die Menschen verharrten reglos, es war still, nur die gestreckte Gestalt des Schaustellers Ress baumelte am Strick. Vielleicht war das der Moment, in dem die Meinung über Herrn Stern endgültig umschlug. Er fiel in Ungnade und wurde gemieden. Herr Stern wurde aus den Herzen und aus der Wärme allgemeiner Beliebtheit verstoßen. Rechtsanwalt Czernisewsky nahm seinen Freund beim Arm und führte ihn aus der unheilvoll schweigenden Menge. Aber sie hörten noch, wie eine Marktfrau mit erhobener Stimme fragte, ob man den unschuldigen Schausteller nicht auferstehen lassen könne.
    Nach der Hinrichtung vervielfältigten sich die Leiden des Herrn Stern. Wenn er sich allein auf die Straße wagte, bespuckten und verhöhnten ihn Landstreicher und Gassenjungen, bewarfen ihn mit faulem Gemüse und toten Ratten. Manchmal schlugen sie ihn sogar. Allmählich sah Herr Stern aus, als käme er aus der

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