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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auszusprechen, das finde er ganz und gar nicht geistreich. Man müsse die Dinge beim Namen nennen, falls sie einen hätten, wie das natürlich sei. Auch während seines Vortrags habe er unzählige Male versucht, diese paar auf »ihn« verweisenden kleinen Laute auszusprechen, zusammenzufügen, doch vergebens.
    Der Name Gottes, sagte Rechtsanwalt Czernisewsky.
    Herr Stern nickte mit starrem Gesicht.
    Nun fragte Herr Czernisewsky, ob es sich nicht um eine unerwartete Auswirkung einer seelischen Krise handle, die große und hervorragende Köpfe ebenso heimsuchen könne wie philosophische Epigonen, unbegabte Imitatoren oder geistige Harlekine. Auch hierzu schwieg Herr Stern und preßte auf einmal die Lippen zusammen, als wolle er nie wieder sprechen. Rechtsanwalt Czernisewsky konstatierte überrascht, daß das Gesicht seines Freundes eine seltsame Verwandlung durchmachte. Aus Herrn Sterns Blick verschwand die Offenheit, er wurde flach und argwöhnisch, ja fast schon heimtückisch. In die Mundwinkel gruben sich tiefe Falten und zogen die Polster der Lippen nach unten, und hätte Herr Czernisewsky dieses Gesicht jetzt zum ersten Mal gesehen, wäre er gewiß der Meinung gewesen, sein
Besitzer sei kleinlich, mißtrauisch und gehässig. Rechtsanwalt Czernisewsky bezwang sich.
    Herr Stern sei doch nicht etwa verliebt, fragte er mit einem verschwörerischen Männerlächeln.
    Endlich lachte Herr Stern einmal. Doch dieses Lachen erstickte in einem quälenden, trockenen Husten. Nein, durchaus nicht, protestierte er mit tränenden Augen, dann fügte er düster hinzu, die Sache sei viel ernster. Also worum gehe es, fragte Rechtsanwalt Czernisewsky, während er sich eine weitere Zigarette anzündete. Abermals schüttelte Herr Stern mit einem schmerzlichen Lächeln den Kopf und fragte, wie sich Herr Czernisewsky den Umstand erkläre, daß er seit dem ominösen Vortrag auch den Namen dieses grünen Gemüses nicht aussprechen könne. Ob er Brokkoli meine, fragte Rechtsanwalt Czernisewsky überrascht. Doch Herr Stern schrie mit wutverzerrtem Gesicht, nein, nicht Brokkoli, Sie sehen doch, lieber Freund, das kann ich aussprechen, Brokkoli, Brokkoli, Brokkoli, brüllte er, nach Atem ringend, dann verstummte er plötzlich.
    Salat, sagte Herr Czernisewsky vorsichtig.
    Salat, wiederholte Herr Stern finster.
    Kohl, hauchte Herr Czernisewsky.
    Kohl, stieß Herr Stern hervor.
    Dann meine Herr Stern wohl die Gurke, beeilte sich Herr Czernisewsky mit der Antwort. Endlich nickte Herr Stern erleichtert, ja, dieses grüne Gemüse habe er gemeint, dieses Wort könne er nicht aussprechen. Ebensowenig wie den Namen jenes Tieres, das gerne bellt, Knochen mag und das man an der Leine führt.
    Das kann nur ein Hund sein, nickte Rechtsanwalt Czernisewsky.
    Herr Stern nickte.
    Und jener, der bei Homer nach zwanzig Jahren heimkehrt, sagte Herr Stern.
    Achilles, antwortete Rechtsanwalt Czernisewsky.
    Herrn Sterns Augen rundeten sich vor Bestürzung.
    Odysseus, wollte ich sagen, errötete Rechtsanwalt Czernisewsky.
    Ja, natürlich, schüttelte Herr Stern aufatmend den Kopf.
    Einige Minuten ging er im Chaos des Zimmers wortlos auf und ab. Schließlich erklärte er, bis jetzt seien ihm circa hundert bis hundertfünfzig Wörter verlorengegangen. Er habe den Verlust sorgfältig gezählt. Diese Wörter könne er einfach nicht aussprechen, genausowenig wie den Namen von »ihm« oder von dem grünen Gemüse. Er sehe keine Zusammenhänge, keine Kausalitäten, er verstehe nicht, was das für eine Krankheit, ob es überhaupt eine Krankheit sei, er fühle sich nicht schlecht, nicht schwach und nicht müde, bloß spüre er, daß ihn jede Minute ein Wort verlasse, und das sei ein entsetzliches, wenn auch im Grunde unbeschreibliches Gefühl.
    Ich glaube, ich leide, sagte Herr Stern leise.
    Nach einer Weile zuckte er mit den Schultern. Rechtsanwalt Czernisewsky zündete sich gereizt eine weitere Zigarette an. Für Augenblicke sah er wieder seinen alten Freund vor sich. Den ruhigen und ausgeglichenen Herrn Stern, der immer die besten Lösungen fand, der nie aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Herr Czernisewsky hatte noch nie mit der Angst Bekanntschaft gemacht, mit dem bedrückenden Gefühl einer unbestimmten Bangigkeit, doch in der Nacht, nachdem er von Herrn Stern zurückgekehrt war, schlief er erst nach langem Herumgewälze und Geseufze
ein, und irgendwann in den frühen Morgenstunden wachte er auf, weil er in kalten Schweiß gebadet war und immerzu schrie: Gurke, Gurke,

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