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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gurke!
    An einem der folgenden Tage zeigte sich Herr Stern unerwartet auf den Straßen der Stadt. Mit entschlossener Ruhe trat er zu diesem und jenem Passanten, zu Bekannten und Unbekannten, Gemüseverkäufern, Stadträten oder Landwirten, er fragte den Betreffenden etwas und wartete geduldig auf die Antwort. Doch diese Antworten stellten ihn nicht zufrieden. Nie wandte er sich ein zweitesmal an dieselbe Person. Seltsam waren diese Fragen.
    Wie nennt man das, fragte er und deutete auf sein Ohr.
    Wie nennt man das dort am Himmel, und wies auf eine Wolke.
    Wie nennt man das, wo die Pferde wohnen?
    Und obwohl Herr Stern meist die richtige Antwort erhielt, kratzte er sich im Nacken und eilte auch schon weiter. Die Tage vergingen. Herr Stern ging durch die Stadt und stellte Fragen. Er vernachlässigte sein Äußeres, kümmerte sich nicht um seine früher so sorgfältig gewählte Kleidung, sein Gesicht wurde schmal und fiel ein. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Freunde. Nur mit Rechtsanwalt Czernisewsky machte er eine Ausnahme, mit ihm traf er sich mehrmals wöchentlich, dann versuchten sie gemeinsam, dem Geheimnis dieser absurden Krankheit auf die Spur zu kommen. Lange Nächte verbrachten sie so, der Rechtsanwalt vernachlässigte sogar seine Kanzlei, doch sie kamen zu keinerlei konkreten Ergebnissen. Er stehe bei ungefähr tausend verlorenen Wörtern, brummte Herr Stern an einem grauen Morgen, wenn es so weitergehe, das habe er nämlich ausgerechnet, werde er mit Jahresende seinen gesam
ten Wortschatz eingebüßt haben. Er habe etwa fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Wörter benutzt, erklärte er seinem Freund, und interessanterweise verschwänden aus den Fremdsprachen, die er bislang gelesen und gesprochen habe, aus dem Lateinischen, Altgriechischen oder den lebenden Sprachen die Wörter ebenso wie aus seiner Muttersprache. Ein andermal teilte er ihm mit, leider sei die Zeit gekommen, wo er selbst den Namen seines Freundes nicht mehr aussprechen könne.
    Meinen Namen? fragte Rechtsanwalt Czernisewsky bleich.
    Herr Stern kratzte sich im Nacken.
    Ja, den Ihren.
    Ich heiße Czer-ni-sew-sky, betonte Rechtsanwalt Czernisewsky jede Silbe einzeln.
    Herr Stern schwieg.
    Czer-ni-sew-sky, wiederholte Herr Czernisewsky.
    Gestatten Sie mir doch, daß ich Sie von nun an Emmanuel Negris nenne, sagte Herr Stern entschlossen und trat, um seiner Bitte Nachdruck zu verleihen, näher an seinen Freund heran.
    Ich soll Emmanuel Negris sein, sagte Herr Czernisewsky und starrte ihn entgeistert an.
    Nur für mich, flüsterte Herr Stern errötend.
    Rechtsanwalt Czernisewsky schwieg, bleich im Gesicht.
    Da seufzte Herr Stern tief und warf einen beharrlichen Blick auf das versteinerte Gesicht Rechtsanwalt Czernisewskys.
    Meine Worte werden mir gestohlen.
    Jemand stiehlt mir die Sprache, setzte er noch hinzu.
    Sofort kam der Seelenzustand von Rechtsanwalt Czerni
sewsky wieder ins Lot, denn gleich erkundigte er sich, ob Herr Stern jemand Bestimmten in Verdacht habe, denn wenn ja, müsse man unverzüglich handeln.
    Herr Stern rieb sich den Nacken, nein, in … in …, und nun zeigte sich, daß er auch das Wort »Verdacht« nicht mehr aussprechen konnte, in … in …, ächzte Herr Stern, nein, habe er nicht.
    An diesem Tag kehrte Herr Czernisewsky mit dem bitteren Gedanken heim, daß, wie es schien, leider auch die Freundschaft nicht mehr heilig sei.
    Czernisewsky, sagte er auf dem Heimweg mehrmals zu sich selbst.
    Einige Tage später erschien Herr Stern in dem düsteren Gendarmeriegebäude und erstattete Anzeige. Er habe das Gefühl, erklärte er Hauptmann Brünn mit stockenden Worten, daß der alte Schausteller, der vor einigen Wochen in die Stadt gekommen sei und mit Kieselsteinen, Karten, Tüchern und Hasen alle möglichen dummen Zaubereien ins Werk setze und seine Kunststücke zugleich lautstark erkläre, also, dieser Schausteller würde ihm die Wörter stehlen. Wie er diese Behauptung begründe, fragte nachdenklich Gendarmeriehauptmann Brünn, der ein mädchenhaftes Gesicht, aber bekanntermaßen eine Seele aus Eisen hatte, worauf Herr Stern ungeduldig zur Antwort gab, man brauche nur dem Tonfall des Schaustellers zuzuhören, die Melodie seiner Worte und Sätze, diese sei genau so, als würde er, Herr Stern, sprechen, überdies, und diese Tatsache halte er für den wichtigsten Beweis, gebrauche der Schausteller mit Vorliebe jene Wörter, die er selbst nicht mehr aussprechen könne. Gendarmeriehauptmann Brünn fingerte an seinen langen

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