Das wilde Leben
bat sie flüsternd, den Film zu Ende sehen zu dürfen, noch zehn Minuten, jetzt wird es richtig spannend, die Sergeanten sahen auf die Leinwand und willigten ein, aber wenn du versuchst zu fliehen, sagten sie, brechen wir dir das Bein, und setzten sich, um zuzusehen und mit den Helden mitzufiebern.
Sowjetische Filme schenkten Hoffnung, boten die Illusion, daß sogar in dieser unvollkommenen Welt nicht alles schlecht ist, daß es sich lohnt, um den Platz an der Sonne zu kämpfen, und daß man den Mut nicht sinken lassen soll, daß alles so sein wird, wie du es dir vorstellst, man braucht nur Liebe und Geduld. Tapfere Männer und schöne Frauen ließen sich durch mißliche Umstände nicht beeindrucken, sie kämpften sich hoch, als gäbe es diese widrigen Umstände gar nicht, ohne Angst und Zweifel, Unsicherheit und Depression.
Ach, wie könnte alles sein, wie könnte alles werden, sie könnten nun irgendwo draußen sitzen, unter dem schwarzen Himmel, süßen starken Madeira trinken, Zigaretten rauchen und den beißenden Qualm in die eisige Abendluft stoßen, Zukunftspläne schmieden, sich halsbrecherische Abenteuer und aberwitzige Gewinne ausmalen, die sich mit der Erfahrung einstellen, er würde mit seinem Freund Wein und Pistazien teilen, den letzten Zug und die geheimsten Wünsche, würde alles von sich werfen, was er in den Taschen und auf der Seele hätte, er würde erzählen, wie man leicht reich wird und den Gewinn schnell wieder verpulvert, wie man ein Visum bekommt und die Zollkontrolle passiert, wie sie sich ihm genähert hatte und ihn auszuziehen begann, wie er ungeschickt Widerstand leistete, aber schnell dazu lernte, wie sie ihr Kleid auszog und ihre Pe
rücke abnahm, wie müde und tief ihre Augen waren, auch ohne Kontaktlinsen, was sie mit ihm machte, was sie ihm erzählte, während sie es machte, wie sie kam, wie sie endlich erschöpft einschlief und er nicht wußte, was weiter, er wollte auch einschlafen, wurde aber jedesmal vom Klopfen seines Herzens wach.
Hinter den Stimmen der Kinohelden war das Geräusch des Meeres zu hören, als ob die Kamera etwas Wichtiges nicht zeigte, das außerhalb des Bildes blieb, man konnte nur erahnen, welche Gefahren und Prüfungen auf die Helden warteten, es schien, daß, wenn sie sich nur für einen Augenblick entspannten, sofort Monster und Ungetüme über sie herfallen würden, die die ganze Zeit über ganz in der Nähe lebten, Geister und Dämonen, Drachen und Ungeheuer, Haie und Kraken – munter, fröhlich und sorglos, grell wie koreanischer Karottensalat.
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr
Nachbemerkung
Das wilde Leben ist überall
Mit dem Herbst 1989, mit dem 11. September 2001, mit dem Sommer 2008 hat sich die Welt in Sprüngen verändert. Unvorstellbar fern die Epoche, als wir noch nicht online waren, als wir noch Zeitungsausschnitte sammelten und Briefe mit der Hand schrieben. Wie überschaubar sie war, unsere von Krieg und Großkatastrophen verschonte Hemisphäre. Wie klar kartographiert der kleine westeuropäische Halbkontinent des Wohlstands und der Sicherheit in einem Meer der Armut, der Korruption, der Gewalt. Zugleich war sich jeder denkende Mensch über das Illusionäre und Provisorische dieses Zustands im klaren. Als der Eiserne Vorhang aufging und unzählige Blechkistchen die Straßen Berlins verstopften, begann eine neue Zeitrechnung. Zunächst in unserer Nachbarschaft, in Mitteleuropa, wo Regime stürzten und die Bürger in Freiheit demokratische Institutionen errichteten; wenig später, unfriedlich und blutig, in Jugoslawien und der zerfallenden Sowjetunion. Auch im Westen hatte die postkommunistische Epoche begonnen, kam die Globalisierung, und die Vorstellung, sich weiterhin raushalten, das Chaos nebenan ignorieren zu können, hatte sich schnell erledigt.
Heute ist der ehemalige Ostblock Teil der westlichen Lebenswelt. Von der häuslichen Pflege bis zum Schneider an der Ecke: Ukrainer, Polen, Rumänen, Litauer, überwiegend weiblich, sind als preiswerte Arbeitskräfte unverzichtbar geworden. Das Label Osteuropa ist aus der Freizeitkultur nicht mehr wegzudenken: Mit Russendisco, Polenmärkten, Balkanbeats, EastBlocMusic verspricht »der Osten« eine spezifische Exotik: Vitalität, Anarchie, das Grelle, Schrille, Ungekämmte, Wilde. Angebote für Leute, die es gern einen Zacken härter und schärfer, nichts für solche, die es gern entspannt und kultiviert hätten
In Zeiten einer so tiefgreifenden Transformation
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