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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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scheint der Literatur ihr Stoff von selbst zuzuwachsen. Kein Bereich des persönlichen Lebens blieb von der Entmachtung der autoritären Eliten verschont, in deren Folge die alte Ordnung, die bisher geltenden Gesetze und Wirtschaftsformen außer Kraft gesetzt wurden. Die größte Gefahr in solchen Übergangszeiten ist die Anomie: ein Zustand mangelnder gesellschaftlicher Strukturiertheit. Die Bürger sind auf Selbstorganisation angewiesen. Das Glück der Befreiung war begleitet von der Angst vor einer neuen Gesetzlosigkeit und Ungeschütztheit. Für diese existentiellen Erschütterungen, die tief in die Seele hineinwirken, haben osteuropäische Autoren ein besonders feines Gespür. Der Anbruch des Neuen setzt die Gespenster der Vergangenheit frei, erst jetzt wird es möglich, von Verstörung und Traumatisierung zu erzählen, wie es der ungarische Schriftsteller László Darvasi (Jg. 1962) tut, dessen sanfter Gelehrter Herr Stern die Ausdrücke für das Schöne, Wahre, Gute verliert und statt dessen nur noch Wörter stammelt, vom Festland eines Sinnzusammenhangs losgerissene Inseln, »Gasofen« zum
Beispiel, was den Geisteszerfall des jüdischen Herrn Stern jäh in ein anderes, schreckliches Licht stellt.
    Die Anthologie Das wilde Leben. East Side Stories versteht sich als Einladung, einige der Schriftsteller kennenzulernen, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten an die Spitze der europäischen Literatur geschrieben haben. Der annus mirabilis , das Jahr der Wende 1989, liegt für sie, wie Jáchym Topol sagt, »in grauer Vorzeit«. Und doch ragt diese Zeit und die Epoche davor weit in die Gegenwart ihrer Texte hinein, nicht nur, wenn sie von der Kindheit handeln.
    In der poetischen Imagination ist die Kindheitserinnerung unmittelbar an den Stromkreislauf der Geschichte angeschlossen: Wojciech Kuczok (Jg. 1972), der mit einem wütenden Roman aus dem Geiste Thomas Bernhards gegen die patriarchalische Familie berühmt wurde, erlebt vor dem Fernsehapparat (ausgerechnet in einem katholischen Gemeindesaal in der Tatra), wie Polen den Einzug ins WM -Finale verpaßt. Was aber war das für ein Land, in dem die Niederlage in einem Fußballspiel dem Zusammenbruch einer Hoffnung auf politischen Umsturz gleichkommt? Sein gleichaltriger litauischer Kollege Marius Ivaškevičius erzählt, wie er die neue Unabhängigkeit seines Staates für Kupferdraht-Schmuggel nutzte und auf die Ruinen einer untergegangenen russischen Zivilisation stieß. Mircea Cărtărescu (Jg. 1956), einer der bedeutendsten Autoren der Gegenwart, dessen visionäres, alle Maßstäbe sprengendes sprachschöpferisches Werk weltweit entdeckt wird, beschwört das Inbild einer türkischen Donauinsel herauf, das sich ihm als Kind unauslöschlich eingeprägt hat. Die Geschichte vom Mord an der Insel Ada-Kaleh versinnbildlicht aufs ergreifendste die verheerende Zerstörungswut eines Diktators,
dessen größenwahnsinnigen Projekten ganze Dörfer und Landstriche zum Opfer fielen.
    Als Kontinent voller Ruinen, voller Relikte eines zerfallenen Imperiums charkterisiert Jáchym Topol (Jg. 1962) die twilight zone namens Osteuropa, ein Gebiet, wo wie in Tarkowskis Stalker seltsame Objekte am Straßenrand auftauchen und überwachsene Pfade ins Nirgendwo führen. Voller Ekel schildert er die alten Leute auf der Prager Kleinseite, die das 20. Jahrhundert übriggelassen hat und die, von den Touristenscharen als Zeitzeugen des Schreckens betrachtet, selbst zu Gespenstern werden.
    Ruinen und Gespenster sind nicht von ungefähr die Leitmotive, die alle acht East Side Stories durchziehen. Mit der kommunistischen Herrschaft endete auch das Schweigen über ihre Verbrechen und Tabus. Das Monströse darf besichtigt werden. Das Unheimliche wartet nebenan. Alles steht in Frage, nichts gilt mehr, Umbau, Abriß allerorten. Für die Ambivalenzen der neuen Freiheit, die jederzeit in Anomie und Chaos umkippen kann, hat die Literatur ein besonders feines Sensorium. Kein Zufall, daß das Werk Franz Kafkas für fast alle hier versammelten Autoren ein Leitstern war. Dem Schrecken setzen sie die aberwitzige Geschichte entgegen, dem Stumpfsinn eine ins Visionäre und Alptraumhafte, aber auch ins Wunderbare gesteigerte Phantasie, der Monotonie das feinstufige Farbregister einer lyrisch beschreibenden Sprache.
    Dies mag einer der Gründe für die Hartnäckigkeit sein, mit der sich bestimmte Vorurteile, die osteuropäische Literatur betreffend, bis heute gehalten haben. Sie gilt als schwerverdaulich und

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