Das wilde Leben
Rolle des Hirten über eine Herde gelblicher Häuser mit abblätternder Haut übernommen. Eines Tages sah ich an ihrer Stelle Schaufelbagger, deren Schaufeln mit Heiligen beladen waren. Ich sah, wie auf Lastwagen zerbrochene Heiligenscheine und Flügel, asketische Gestalten und Jüngste Gerichte zu Müllhalden gefahren wurden. Die heiligste und bunteste Mülldeponie, die es je gegeben hat. Kuppeln mit Kreuzen sah ich, die mit Stahlseilen zu Boden gerissen wurden, sah Szenen aus dem Neuen Testament in Öl auf Wände gemalt und wie diese mit einer großen Eisenkugel zerschlagen wurden. Ich sah Ruinen, immer mehr und noch mehr Ruinen. Ich sah ande
re Kirchen, die auf Räder gesetzt waren und zig Meter weiter transportiert wurden – mit Popen und allem Drum und Dran, wie transzendentale Straßenbahnen. Dann hat man sie hinter grauen Wohnblocks versteckt, die sehr viel höher waren als ihre bescheidenen Kuppeln. An ihre demütig und mit innerlicher Ergriffenheit von irgendeinem feinnervigen Maler in welchem Jahrhundert auch immer bemalten Wände hatte man nun die Müllcontainer des Arbeiterviertels gelehnt. Ich sah, wie der schönste Hügel im Zentrum der Stadt zur Einöde gemacht wurde – wie in Hiroshima, und daß kein einziger Schmerzensdom stehenblieb, um Zeugnis abzulegen …
Welch seltsames Schicksal war mir zugewiesen! Ich bin zwischen Ruinen erwachsen geworden, habe zwischen Ruinen gelernt, zwischen Ruinen geliebt. Manchmal denke ich, Rumäne sein heiße, Hüter von Ruinen zu sein, Architekt von Ruinen, Liebhaber der Ruinen. Ein uralter Mythos aus der Walachei erzählt vom Meister Manole, der die größte Klosterkirche der Welt bauen wollte. Doch alles, was er tagsüber aufbaute, stürzte nächtens wieder ein. Mitunter denke ich, er habe absichtlich bloß Ruinen gebaut, wie in Heliopolis, in Troja, Tenochtitlán, Pompeji, Rom und überall auf dieser tragischen Erde – wie ein Memento mori der kosmischen Ruine, in der wir leben.
1985 haben die Finsternis, die Kälte und der Hunger das Werk des Conducators vollendet. Ebenso wie die verzweifelten Menschen im kommunistischen Deutschland, die auf die Mauer zwischen den beiden Welten kletterten und sich den Kugeln aussetzten, begannen auch die Rumänen über die Grenzen des kommunistischen Gefängnisses zu fliehen. Ihre Mauer war die Donau. Die kühnsten von ihnen versuch
ten, schwimmend die Donau ins sehr viel liberalere Jugoslawien zu überqueren, um von dort in den Westen zu gelangen. Sie verbrachten Tage in ihren Weidenverstecken am Ufer und stürzten sich dann in mondlosen Nächten in den großen Strom. Häufig versuchten sie, den breiten Stausee zu durchschwimmen, dessen Wasser ruhiger war. Hunderte von ihnen starben, verfolgt von den Schnellbooten der Grenzer, an Kopfschüssen aus nächster Nähe oder mit Rudern erschlagen und versenkt. Der Befehl für die Grenzer lautete, niemanden lebend ans Ufer zu bringen. Wie viele Leiber sind wohl in Höhe der Insel Ada-Kaleh sanft auf den Grund des Wassers hinabgesunken? Wie viele endeten, von Fischen und Krebsen zernagt, an der Stelle, wo einstmals ein Blütenkorb auf den Wassern des Stromes schwamm? Wie viele werden die Gebeine von Miskin-Baba, des heiligen Muselmanns, berührt haben, die der Schlamm mit seinem sanften Wiegen auf dem Grund freigelegt hatte? Ada-Kaleh, das sich immer noch reliefartig mit den Umrissen eines riesigen Steinbutts unter dem Wasser abzeichnete, bevölkerte sich in jenen Jahren mit Leichen, sehr vielen Leichen, Leichen die sich wiegten, stehenden Leichen. Ein Rücken voller Leichen, von Fischen zerrissen und von Träumen …
In Gräser eingeschlungen und von den Barten der Welse betastet, wiegten sie sich vielleicht auch im Jahre 1998 noch, als ich bloß ein paar zig Meter von der Insel entfernt war, die mir zu lieben gegeben war, ohne sie je gesehen zu haben. Unglücklicherweise etliche Dutzend Meter in die Tiefe gemessen. Um eine Reportage über die in Höhe von Cazane Ermordeten zu schreiben, war ich in Neu-Orschowa und habe mit vielen Einheimischen gesprochen. Dann stieg ich in ein Fischerboot und habe um Mitternacht ver
sucht zu verstehen, was es heißt, die Donau in dem Wissen schwimmend zu durchqueren, daß dich jederzeit ein Scheinwerferstrahl ausfindig machen kann, worauf dann unweigerlich das Ende folgt. Der alte Türke am Ruder hatte nicht auf der Insel gelebt, aber seine Geschäfte hatten ihn unzählige Male dorthin geführt. Nun ruderte er schweigend im zitternden Licht der
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