Das wilde Leben
Leuchten, die den großen Staudamm säumten. Nach einer Weile hielt er an: »Hier unter uns ist Ada-Kaleh«, sagte er. »Etwa die Mitte, ungefähr da, wo Ali Kadris Palast gestanden hat.« Etwa die Stelle, an der Kaiser Franz Joseph kürzlich seine Krone vergraben hat, sagte ich mir.
Wir blieben die ganze Nacht auf dem pechschwarzen Wasser. Der Türke ruderte gelassen den See hinauf und hinab, als hätte er die Umrisse der Insel tatsächlich sehen können. Er hielt mit dem Boot über dem Minarett, über der Zigarettenfabrik, über einem berühmten Tingeltangel, einem großen Kaffeehaus. Jedesmal schaute ich tief ins Wasser hinunter. Und ich sah nichts als das Gesicht eines Mannes mit schwarzen Augen. Als wäre ich selbst die Insel gewesen, als wäre ich in dem Fischerboot über mir selbst, wie ich mit dem Gesicht nach oben unter dem Wasser lag, dahingeglitten. Da fiel mir ein, daß es tief in unserem Hirn eine Zone gibt, die Insel heißt. Daß wir alle in den Wassern unseres Verstandes eine Insel haben, die wir verzweifelt suchen, als handelte es sich um den geschmolzenen Diamanten unseres eigenen Wesens. Daß wir selbst und unsere Welt tief versenkt sind in den Wassern der Zeit und des universellen Gedächtnisses, wie ein Ada-Kaleh, das nie mehr wirklich sein wird.
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
László Darvasi
Herr Stern
Für Katharina Raabe
Mittels der Sprache erwecken die Menschen
den Anschein, frei zu sein.
Cioran
E s geschah an einem strahlenden Frühlingstag. Der Waldhüter Subic betrachtete gerade eine Schneckenspur am Stamm einer Buche, als er stolperte und in das modrige Laub fiel. Und während er sich darin wälzte, rutschten ihm ein paar derbe Wörter heraus, doch nicht so viele, daß es hätte ungehörig wirken können. Der Waldhüter liebte den Wald, und er dachte oft, daß alles, was unter dem Laubdach der Bäume, auf sonnigen Lichtungen, in von Kieselsteinen übersäten Bachbetten geschah, nicht nur seine Richtigkeit hatte, sondern gar nicht anders sein konnte. Daran versuchte der Waldhüter auch jetzt zu denken, und während er sich hochrappelte, erblickte er im Laub etwas Weißes, Wurzelartiges. Er beugte sich darüber und stieß einen Laut der Verwunderung aus. Die weiße Wurzel erwies sich als menschlicher Arm, seines Rumpfes, seines Besitzers beraubt. Die Finger krallten sich in die weiche Erde wie die Wurzeln eines Baumes. Der Waldhüter Subic räusperte sich gründ
lich, spuckte aus, dann wollte er den noch warmen Körperteil mit einer einfachen Bewegung aus der Erde ziehen. Es gelang ihm nicht. Der Waldhüter machte einen zweiten Versuch. Doch es schien ein zentnerschwerer Steinblock zu sein, den er da heben wollte. Der Waldhüter Subic spuckte nochmals aus, während er die ungewöhnlich hartnäckige Extremität argwöhnisch musterte. Dicht darübergebeugt, sah er die abgerissenen Adern, die sackgarndicken Nervenstränge, das runde Ende des Oberarmknochens und die kleinen braunen Waldameisen, die auf der Haut herumliefen. Es wollte dem Waldhüter Subic ganz so scheinen, daß den Arm nicht ein Schnitt vom Rumpf getrennt hatte, sondern etwas anderes, irgendeine mörderische Kraft. Trotzdem wunderte er sich nicht, denn einfach denkende Menschen werden selten von Dingen in Erstaunen versetzt, die ihnen nicht persönlich widerfahren sind. So nahm er seinen Rucksack ab, kramte das Scharreisen hervor, und wie man Blumen samt ihren Wurzeln oder Baumkeimlinge aus der Erde zu schälen pflegt, grub er damit schön tief unter den Fingern in die Erde und löste den Arm mit einfachen Bewegungen heraus. Er stopfte ihn in seinen Rucksack und machte sich auf den Weg in die Stadt.
Die Stadtverwaltung traf bezüglich des Arms zwei wesentliche Feststellungen. Ohne Zweifel gehörte er dem unglücklichen Herrn Stern, der vor einigen Wochen, noch im Februar, aus dem hiesigen Irrenhaus entflohen war. Davon zeugte unwiderlegbar der Siegelring mit dem Kleeblatt, der an seinem Finger glänzte. Des weiteren stellte die Behörde fest, daß sich der Arm durch die Einwirkung einer fürchterlichen Kraft vom Körper getrennt hatte, ganz einfach vom Rumpf abgerissen worden war. Allem Anschein nach hatte
sich ein Verbrechen ereignet, und das Opfer war der allseits bekannte Herr Stern, dessen unglückliches, fast schon in wohltätiges Vergessen geratenes Leben nun neu überdacht werden mußte.
Zu der Zeit, als Herr Stern lebte, waren Heiligenlegenden nicht besonders gefragt. Genausowenig wie die Taten der
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