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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
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hinten gestellt und war eingeschlafen. In so einem alten Wartburg war zwar mehr Platz als in einem Trabbi, aber für die lange Strecke hätte ich mich doch nicht überreden lassen sollen, Anke den Beifahrersitz zu überlassen. Ich wusste einfach nicht wohin mit meinen Beinen. Katrin schlief ebenfalls, und ihr Kopf war irgendwann auf meine Schulter gerutscht, was ich nicht unangenehm fand, obwohl tendenziell eher Anke mein Typ war. Nun konnte ich mich überhaupt nicht mehr bewegen. Andi fuhr schweigend und rauchte eine nach der anderen.
    Dieses Jahr am Balaton.

2. Under the Milkyway
    Andis Bruder Jens war fünf Jahre älter als wir. Er hatte in den späten 70ern eine Heavy-Metal- und Fußballfan-Sozialisation erfahren und gehörte zu einer gefürchteten Clique Halbstarker, die sich in der Rakete eingenistet hatte, noch lange bevor wir dort das erste Mal artig zur Samstagnachmittag-Teenie-Disco vor der Tür anstanden. Solange ich mich zurückerinnern konnte, hatte Jens enge Röhrenjeans getragen und eine Jeansweste, auf deren Rückseite ein riesiger selbstgemalter AC/DC-Schriftzug prangte. Letztlich war Jens ganz in Ordnung und Grünau trotz der Betonwüsten-Atmosphäre ein großes Dorf – in der Rakete trafen sich alle friedlich beim Bier.
    Anfang der 80er war Jens auf dem besten Wege auf die schiefe Bahn zu geraten. Die wöchentlichen Besuche örtlicher Oberliga-Fußballvereine endeten im Allgemeinen in handfesten Schlägereien mit gegnerischen Fans und Jens war immer mit am Start. Außerdem stand er seinem Vater in nichts nach und soff wie ein Loch. Nur die Polizei hatte ihn noch nicht erwischt, aber das war wohl bloß eine Frage der Zeit. Dafür wurde er im Herbst 1982 von der NVA eingezogen, Grundwehrdienst, anderthalb Jahre. Von dort zurückgekehrt, hatte er zwar kürzere Haare, ansonsten war eraber der Alte geblieben. Allerdings schimpfte er noch mehr über den Staat als zuvor. Das mit dem »Ehrendienst« war also nach hinten losgegangen. Von ihm hatten Andi und ich auch den Spruch »20 Meter im Quadrat – überall nur Stacheldraht. Da weißt du wo ich wohne – ich wohne in der Zone.« Damals als Kiddies fanden wir das aufregend. Jens erzählte uns außerdem, dass man wegen solcher Sprüche sofort in den Knast käme und die Kinder in den Jugendwerkhof.
    Nachdem sein Vater im Mai 1984 diesen »Getränkeunfall« hatte, zog Jens sich plötzlich für einige Wochen mit mehreren Schachteln Zigaretten und seinen Lieblings-Heavy-Metal-Kassetten in sein Zimmer zurück und begann offenbar über sein weiteres Leben nachzudenken. Das Resultat dieser geradezu meditativen Selbsterfahrung war, dass Jens einen Ausreiseantrag stellte. Er wollte raus, rüber in den Westen. Hier gab es für ihn absolut nichts mehr, was ihn interessierte. Und dann war er weg. Seit 1987 hatte Andi seinen Bruder nicht mehr gesehen.
    Irgendwann war auch ich im Warti eingeschlafen. Wir stoppten nur zu Pinkelpausen, und Andis Wagen hatte uns bis jetzt nicht im Stich gelassen. Zwischen Prag und Bratislava fuhren wir auf der Autobahn und nach der ungarischen Grenze nur noch Landstraße.
    Inzwischen war es schon wieder Morgen und die Sonne prasselte auf unser Auto. Wir hatten alle Fensterscheiben runtergeleiert und hielten die Hände in den Fahrtwind. Aus dem Rekorder tönte The Cure mit »A Forest«.
    Weinberge kündigten am späten Vormittag die Nähe unseres Reisezieles an. Ab einem Ort mit dem kaum aussprechbarenNamen »Balatonfüzfö« konnten wir schon das Wasser sehen, und auch alles andere sah hier wirklich nach Urlaub aus. Vor allem einige klotzige Hotels am Strand im 70er-Jahre-Betonstil. Plattenbau am Plattensee – wie passend. Auf dem Wasser glitten weiße Segelboote dahin.
    In Siófok schauten wir nach dem »Camping International«-Schild, unserem Reiseziel. Die Zeltplätze am Balaton waren oftmals ausgebucht, doch hier sollte man, nach Informationen eines Kumpels aus der Rakete, ganz sicher immer einen Platz bekommen.
    Endlich bogen wir in das umzäunte Gelände ab. Andi parkte den Wagen an der Rezeption, und wir sprangen raus. Ich fuhr mir mit den Händen durch die Haare, um meine Frisur wieder in Form zu bringen, während Andi die Motorhaube seines Wartis küsste und ihn liebevoll streichelte. »Danke fürs Durchhalten, alter Junge«, flüsterte er ihm zu.
    Wir reckten unsere eingeschlafenen Arme und Beine und schauten uns um. Vor der Eingangstür neben der Rezeption stand eine zwei Meter hohe Kübelpalme. Cool. So was kannte ich

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