Das wird mein Jahr
hatte ich mir dann von meinem zusammengesparten Lehrlingsgeld eine gebrauchte E-Gitarre und einen kleinen Vermona-Verstärker gekauft und versuchte mich an den Songs der beiden überspielten Kassetten meiner Lieblingsband The Smiths. Andi trommelte schon in der Schule immer nervös auf der Bank herum und machte sich im Proberaum am Schlagzeug der Metal-Band, das er gegen einen Kasten Bier mitbenutzen durfte, gar nicht so schlecht. Leider kannten wir sonst niemanden, der ein Instrument spielte und ungefähr auf unsere Musik stand. Aber an dem einen Abend in der Rakete fanden Andi und ich, dass Anke einfach wunderschön aussah und sie darum die perfekte Sängerin abgab. Außerdem schien uns die Sache mit der Band als der ultimative Masterplan, um an die sonst immeretwas unnahbar wirkenden beiden Mädels ranzukommen.
Anke war in unserer Clique schon was Besonderes und das nicht nur wegen ihrer Frisur: knallrot gefärbte Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, vorn ein streng geschnittener Pony. Vor zwei Jahren trug sie noch die gleiche auftoupierte Robert-Smith-Frisur wie Katrin, aber das bekam ihren Haaren auf Dauer nicht. Das rote Haarfärbemittel ließ sie sich von ihrer West-Tante schicken, denn solch einen grellen Farbton gab es in der ganzen DDR nicht zu kaufen. Ansonsten trug sie konsequent schwarze Klamotten. Ihr war auch scheißegal, dass manche in Grünau ihr hinterherriefen, dass man früher solche Leute wie sie vergast hätte. Was sollte ihr schon groß passieren? Ihr Vater war Chefarzt für Chirurgie an der Universitätsklinik, und Genosse war er auch. Ihre Mutter arbeitete als Verkäuferin in einem Exquisit in der Innenstadt. Anke hatte gerade ihr Abitur mit 1,2 abgeschlossen und einen Studienplatz für Medizin in der Tasche. Dennoch war sie alles andere als eine Streberin. Sie war eben intelligent – irgendwie – und wunderschön. Alle Jungs in der Clique wollten was mit ihr anfangen, aber sie hielt jeden auf Distanz. Sie hatte was Geheimnisvolles, ähnlich wie Annie Lennox von den Eurythmics im Musikvideo zu »Here Comes The Rain Again«. »Für mich gibt es nur Robert Smith«, sagte Anke immer, wenn auf Partys oder bei der Disco jemand versuchte, sie anzubaggern. Es hieß, sie hätte einen Freund in einem anderen Leipziger Stadtteil, den wir aber nie zu Gesicht bekamen. Keine Ahnung, ob das stimmte.
Anke als angehende Ärztin. Ich stellte mir vor, wie FrauDoktor Anke eines Tages im weißen Kittel meinen Körper ausgiebig untersuchen würde. Währenddessen versank die Sonne in satten Orangetönen rechts neben uns, und wir fuhren auf die holprige Autobahn Richtung Dresden in die Nacht. Es gab so einen DEFA-Spielfilm, der hieß »Nächstes Jahr am Balaton«. Ich hatte den noch nie gesehen, und der war auch bestimmt nicht gut, aber der Titel fiel mir plötzlich ein. »Dieses Jahr am Balaton«, sagte ich zu mir. Meine Augen waren noch geschlossen, und ich grinste.
Anke hatte sich den Beifahrersitz erbettelt. Sie sagte, dass ihr auf der Rückbank immer schlecht werden würde, und Andi bekam sofort Angst, dass sie sein Auto vollkotzen könnte. Ich sagte: »Mensch Anke, das liegt doch nur an Andis Fahrstil«, aber ich machte ihr den Platz frei.
Da im Warti nur ein altes Mono-Radio ohne Kassettenteil eingebaut war, hatte sich Anke dazu überreden lassen, ihren Rekorder mitzunehmen, einen Sanyo aus dem Intershop, den sie zur Jugendweihe bekommen hatte. Nach langer Diskussion hörten wir zuerst Die Ärzte, weil die alle geil fanden und man von deren Musik immer gute Laune bekam.
Gut drei Stunden fuhren wir bis zur tschechoslowakischen Grenze. Auf der Strecke Leipzig–Dresden konnte man die Autobahn benutzen, danach gab es nur noch eine Landstraße durch die Sächsische Schweiz. Andi fuhr im Schritttempo auf den Posten zu. Hier am Grenzübergang Zinnwald war in der Urlaubssaison nachts weniger Betrieb, und wir mussten nur etwa eine halbe Stunde warten, bis wir an der Reihe waren. Wir hatten uns deshalb entschlossen, erstabends in Leipzig los- und die ganze Nacht durchzufahren, um am nächsten Tag schon vormittags am Balaton zu sein. Mindestens zwölf Stunden würden wir für die etwa 800 Kilometer Fahrt brauchen, inklusive kleinerer Pausen und möglicher Reparaturen am Warti. Nachts war auch auf den tschechoslowakischen Landstraßen weniger LKW-Verkehr, denn die konnte man bis Prag kaum überholen, hatte uns Ankes Vater aufgeklärt.
Andi brachte den Wagen an einem der Schalter zum
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