Das wird mein Jahr
die Tür ins Freie.
»Erst mal Land gewinnen«, rief mir Dave zu. Wir sprangen über Peters Absperrkette und verschwanden rennend hinter unserer alten Schule. Ein Glas schlug knapp hinter uns auf den Asphalt und zersprang.
»Wir kriegen euch alle!«, riefen die Faschos uns nach. Und »Sieg Heil!« Na, wenn es ihnen half, die Situation zu verarbeiten.
Dave und ich schauten nicht zurück und sprinteten, was unsere Beine und unsere Alkoholpegel hergaben. Zwischen dem ganzen Gebrüll erkannte ich noch Peters sonore Stimme, die »Hände weg von der Kette!« schrie. Als wir sicher waren, dass keiner uns mehr verfolgte, stoppten wir völlig außer Atem in einer dunklen Einfahrt.
»Und das noch vor der Depeche-Mode-Song-Runde. Schöne Scheiße!«, pustete Dave.
»Schön, mal wieder in der alten Heimat zu sein«, keuchte ich. »Schätze, du kannst dir ’ne neue Stammdisco suchen, Dave. Tut mir leid.«
»Ach, das machen die jedes Wochenende. Stories of old. Das kriege ich schon wieder geregelt.« Dave versuchte aufmunternd zu klingen. »So ist Grünau jetzt halt.«
»Also, so schlimm hatte ich mir das nicht vorgestellt. Wie hältst du das nur aus?«
»Man arrangiert sich irgendwie. Das war doch immer unser Club.«
15. Watch Me Bleed
War es richtig gewesen, einfach so von Anke weggegangen zu sein? Ich hatte mir in der Konzerthalle fest vorgenommen, mich nicht noch mal in sie zu verlieben. Ganz, ganz fest. So fest, dass es wehtat. Aber …
Ich war auf der Rückfahrt von meinem alten zu Hause, Leipzig, nach Esslingen, mein neues zu Hause. Schon nach dem Mittagessen hatte ich mich bei meinen Eltern wieder aus dem Staub gemacht. Und während ich in Leipzig überhaupt nicht groß über das Wie und Warum nachgedacht hatte, sondern noch berauscht war von der Nacht mit Anke, nagten nun immer stärker die Zweifel an mir. Aber gab es überhaupt eine reale Möglichkeit, mich bei Anke noch mal ins Spiel zu bringen, ohne wieder wie ein Volltrottel dazustehen? Sollte ich wirklich in ein fast verheiratetes Paar reinbaggern? Aber Anke schien andererseits auch nicht gerade glücklich mit ihrem sich anbahnenden neuen Lebensabschnitt. Sonst hätte es kaum diese Nacht gegeben. Möglicherweise war das meine Chance gewesen. Sie, das Dornröschen und ich, der Prinz, der sie aus dem verwunschenen Schloss befreite. Wachgeküsst hatte ich sie ja ausgiebig, war dann aber ohne sie weitergezogen. Im Märchen endete das irgendwie anders.
Nein, das Ganze, das war nur ein Treffen in einem Paralleluniversum gewesen. Eine Anomalie von Zeit und Raum. Anke war gestern, das war noch DDR, das war vorbei. Als ich damals am 10. November 1989 über die Grenze in den Westen gefahren war, wollte ich nur noch nach vorn schauen und alles andere hinter mir lassen. Nach vorn schauen. Nach vorn! Scheiße! Ich musste voll auf die Eisen gehen, weil vor mir ein LKW plötzlich auf die linke Spur wechselte ohne zu blinken. Ich hupte was das Zeug hielt. Der Arsch! Ich Arsch. Ich Schwächling. Warum bekam ich sie jetzt nicht mehr aus meinem Kopf ?
Irgendwann fing es an zu regnen, und die Scheibenwischer verjagten dicke Tropfen von der Frontscheibe. Anke hatte keine Adresse und keine Telefonnummer von mir. Ob sie Katrin anrufen und danach fragen würde? Ich weiß gar nicht, ob die überhaupt meine Nummer kennt. Sollte ich ernsthaft die nächste Zeit damit verbringen, auf eine Nachricht von ihr zu warten? Nein, ich bin doch nicht bescheuert. Aber dieses stechende Gefühl war nun mal da … Ich musste die Sache für mich irgendwie zu einem Abschluss bringen. Ich könnte ihr einen Brief schreiben, ihre Adresse würde ich noch zusammenbekommen. Aber wie sollte ich Gefühle in Worten ausdrücken, ohne dass es lächerlich wirkte?
Abends war ich wieder in Esslingen. Draußen tanzten immer noch die Regentropfen, doch ich sah ihnen nicht dabei zu. In meiner Wohnung blieb ich vor der Musikanlage stehen und drückte die Playtaste des Kassettendecks. Das markante Gitarrenriff und die kurz darauf einsetzenden Drums erkannte ich sofort. »Love will tear us apart«, sang Ian Curtis von Joy Division und ich riss den Lautstärkereglerhoch. Was für eine geniale Textzeile! Genau das müsste ich Anke sagen! Ihr, die womöglich gerade Umzugskartons schleppte und dabei, nach der Nacht mit mir, darüber nachdachte, ob es gut sei, sich jetzt schon zu verloben. Und wenn sie es verdammt noch mal wirklich durchziehen würde, wäre ich doch eigentlich der lachende Dritte. Oder der weinende
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