Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Lange
Vom Netzwerk:
Hoheitszeichen an der Betonsteele, welche mir anzeigte, wo die DDR losging, hatte überhaupt keine Bedeutung mehr. Dennoch spürte ich den Moment, ab dem ich wieder in der Zone war. Ein gleichmäßiges leichtes Holpern schüttelte mich sanft.
    In meinem Kopf brummte es ebenfalls gleichmäßig. Doch das war kein Tinnitus vom gestrigen Konzert, sondern dieses merkwürdige Gefühl innerer Anspannung. Anspannung von diesem unverhofften Wiedersehen mit Anke und der Faust im Magen, die mir sagen wollte, dass das nicht meine Baustelle war – noch nie gewesen, und dass sie das wohl auch nie sein würde. Doch jetzt musste ich erstmal auf Familienstimmung umschalten. Zeit zum Grübeln blieb mir auch noch in Esslingen.
    Die Skyline von Grünau-City empfing mich zum Einbruch der Dunkelheit. In meinem Rückspiegel leuchtete das Abendrot. Vor mir Plattenbauten in verschiedenen Größen und Grautönen so weit das Auge reichte. Dazwischen einige kleine Bäumchen, die versuchten, gegen die übergroßen Betonklötze anzuwachsen. An den alten runtergekommenen Kaufhallen hing großflächig kunterbunte Werbung für westdeutsche Produkte, so als hätte eine faltige Oma in verschlissenen Klamotten knallroten Lippenstift aufgetragen. Apropos – ob es Frau Fensterguck noch gab?
    Vor meinem alten Wohnblock bekam ich kaum einen Parkplatz. Überall standen West-Schlitten. Meist ältere gebrauchte und wenige Neuwagen. An jedem Zweiten klebte auf der Heckscheibe ein Aufkleber: »Oh, frische Bohnen!«, in der Tchibo-Schrift. Was sollte das denn? Dazwischen standen immer mal wieder Wracks von ausgeschlachteten Trabbis und Wartburgs. An die Balkone waren Satellitenschüsseln montiert, wie in den ärmeren Vierteln Stuttgarts. Unseren Block zierten zwei Graffitis, »Rotfront verrecke« und »Nazis raus«, und auf ein Wahlwerbeplakat mit dem Konterfei von Helmut Kohl hatte jemand ein Hitlerbärtchen gemalt. In den umliegenden Gebüschen lagen leere Bierdosen. Mein Blick schweifte zum Haus von Frau Fensterguck aber dort waren die Gardinen zugezogen. Mir schien, im vergangenen Jahr hatte nicht nur ich meine Unschuld verloren – in Esslingen, mit Elisabeth –, sondern auch das gute alte Grünau.
    Ich lief rüber zum Garten, wo die Geburtstagsparty meinesVaters steigen sollte. Es waren etwa zwanzig Leute da, Verwandte, Gartennachbarn und Arbeitskollegen.
    Mein Vater rief laut und übertrieben hochdeutsch in die Runde: »Oh, da kommt unser Sohn aus Stuttgart«, und es folgte ein allgemeines »Ah« und Gejohle. Man merkte, dass sie schon einige Biere niedergemacht hatten. Onkel Frank, der jüngere Bruder meines Vaters, stand wie immer mit Schürze am Grill und prostete mir zu. Meine Mutter kam mir aufgeregt entgegengerannt und umarmte mich.
    Ich wurde in der Mitte der Tafel platziert, gleich neben meinen Vater und überreichte ihm mein Geschenk. Ich hatte es schon vor Wochen in Stuttgart gekauft: eine Bohrmaschine mit 650 Watt, Rechts-Links-Lauf und Schnellspannfutter. Meine Mutter hatte mir am Telefon den Tipp gegeben.
    »Herzlichen Glückwunsch, alter Mann«, sagte ich.
    »Oh, vielen Dank, junger Mann«, sagte mein Vater. Ich nahm mir ein Bier.
    »Und, die Laube steht noch, wie ich sehe?« Wir prosteten uns zu.
    »Jawohl. Innen hab ich die Decke mit Styropor-Platten verkleidet. Musst du dir gleich mal anschauen. Die gibt es jetzt in den neuen Baumärkten. Sieht nobel aus. Wie in Wandlitz.« Er lachte. Meine Mutter reichte mir einen Teller mit Bratwurst und Kartoffelsalat.
    »Ja, du im Westen hast wenigstens Arbeit«, rief Onkel Frank ohne jeden Zusammenhang vom Grill zu mir rüber. »Aber wir nicht mehr lange. Die ganzen alten Betriebe werden bald dichtgemacht. Die Wessi-Bonzen warten nur drauf. Hier kann doch kein Mensch was Vernünftiges für den Weltmarkt produzieren. Ist doch alles im Arsch.«
    »Ach, Quatsch. Der Doktor Kohl hat versprochen, dass es keinem nach der Wiedervereinigung schlechter gehen wird als vorher«, entgegnete mein Vater lautstark.
    »Da glaubst du dran?« Onkel Frank war an den Tisch herangetreten und zeigte mit der Grillzange auf seinen Bruder. »Du wirst dich schon noch umgucken. Die Betriebe drüben im Westen stellen einfach die Fließbänder ein bisschen schneller«, er drehte mit der anderen Hand an einem imaginären Rädchen, »und schon können die uns hier mit ihrem Kram überschwemmen. Wirste sehe. Überschwemmen! Ist doch alles im Arsch hier.«
    »Du redest ja wie einer von den Roten.« Mein Vater wollte aufstehen,

Weitere Kostenlose Bücher