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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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daß es ihm oder dir bewusst war.« Das Gewicht von Don Juans Worten war zu schwer für meine Schultern. Ich brach zusammen. Ich hatte das Gefühl, mich hinlegen zu müssen. Mir wurde schwindlig. Vielleicht lag es an der Umgebung. Ich hatte den schweren Fehler begangen, am späten Nachmittag bei Don Juan anzukommen. Die untergehende Sonne schien erstaunlich golden zu sein. Das Licht brach sich auf den kahlen Bergen im Osten von Don Juans Haus in Gold- und Violettönen. Nicht eine einzige Wolke stand am Himmel. Nichts schien sich zu regen. Die ganze Welt schien sich zu verstecken, aber ihre Gegenwart war überwältigend. Die Stille der Wüste von Sonora war wie ein Dolch, der bis zum Mark meiner Knochen vorstieß. Ich wollte fliehen, ich wollte in meinen Wagen steigen und davonfahren. Ich wollte in die Stadt, um mich im Straßenlärm zu verlieren.
    »Du bekommst gerade eine Kostprobe der Unendlichkeit«, sagte Don Juan ernst und entschieden. »Ich weiß es, denn ich habe mich in deiner Lage befunden. Du möchtest davonlaufen, um dich in etwas Menschliches, Warmes, Widersprüchliches, in eine Dummheit zu flüchten. Du möchtest den Tod deines Freundes vergessen. Aber die Unendlichkeit hindert dich daran.« Seine Stimme wurde freundlicher. »Die Unendlichkeit hat dich in ihrem unbarmherzigen Griff.« »Was kann ich jetzt tun, Don Juan?« fragte ich. »Du kannst nur eins tun«, antwortete er. »Du kannst die Erinnerung an deinen Freund für den Rest deines Lebens und vielleicht sogar darüber hinaus lebendig halten.
    Die Zauberer drücken auf diese Weise ihren Dank aus, den sie nicht mehr artikulieren können. Vielleicht findest du das töricht, aber es ist das Beste, was Zauberer tun können.«
    Zweifellos lag es an meiner Niedergeschlagenheit, daß ich glaubte, der üblicherweise heitere Don Juan sei ebenso traurig wie ich. Ich verwarf den Gedanken sofort, denn das war nicht möglich.
    »Trauer ist für Zauberer nichts Persönliches«, sagte Don Juan und unterbrach wieder meine Gedanken. »Es ist eigentlich nicht Trauer. Es ist eine Energiewelle, die aus den Tiefen des Kosmos kommt und die Zauberer trifft, wenn sie aufnahmefähig sind, wenn sie wie ein Radio die Funkwellen empfangen. «
    Die Zauberer der alten Zeit, die uns den ganzen Umfang der Zauberei erschlossen haben, waren der Ansicht, daß es im Universum Trauer als eine Kraft gibt, als einen Zustand, so wie das Licht, wie das Wollen. Diese immer währende Kraft, sagten sie, wirkt vor allem auf Zauberer, weil sie keine Schutzschilde mehr haben. Sie können sich nicht hinter ihren Freunden oder ihren Forschungen verschanzen. Sie können nicht Liebe, Haß, Glück oder Leid vorschieben. Sie können sich hinter nichts verstecken. Die Zauberer befinden sich in einer Lage«, fuhr Don Juan fort, »in der Trauer für sie etwas Abstraktes ist. Trauer entsteht nicht dadurch, daß man etwas haben will oder daß etwas fehlt oder aus Eigendünkel. Trauer kommt nicht aus dem Ich. Sie kommt aus der Unendlichkeit. Deine Trauer darüber, daß du dich bei deinem Freund nicht bedankt hast, weist bereits in diese Richtung. Mein Lehrer, der Nagual Julian«, fuhr er fort, »war ein großartiger Schauspieler. Er arbeitete am Theater. Dort erzählte er mit Vorliebe eine Geschichte und stürzte mich damit jedesmal in schreckliche Qualen. Er sagte, die Geschichte sei für Krieger, die alles hatten und doch den Schmerz universaler Trauer spürten. Ich hatte immer den Eindruck, daß er die Geschichte mir zuliebe erzählte.«
    Don Juan erzählte in eigenen Worten die Geschichte seines Lehrers und sagte, sie handle von einem Mann, der an tiefer Schwermut litt. Der Mann suchte in seiner Verzweiflung bei den besten Ärzten seiner Zeit Rat, aber keiner konnte ihm helfen. Schließlich kam er in die Praxis des besten Arztes, eines Seelenheilers. Der Arzt meinte, sein Patient könne möglicherweise durch Liebe Trost finden und dadurch seine Schwermut besiegen. Der Mann erwiderte, Liebe sei kein Problem für ihn. Man liebe ihn vielleicht mehr als sonst einen Menschen auf Erden. Der Arzt schlug daraufhin vor, er solle eine Reise unternehmen und sich andere Teile der Welt ansehen. Der Mann erklärte, es sei keine Übertreibung, wenn er sage, er sei bereits in jedem Winkel der Erde gewesen. Der Arzt empfahl Hobbys wie Künste, Sport, etc. Der Mann reagierte auf alle Vorschläge mit den gleichen Worten: Er hatte dies und das getan, ohne von seiner Schwermut befreit zu werden. Der Arzt vermutete, der

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