Das Wörterbuch des Viktor Vau
sich Verbrechen hier nicht auszahlten.
Hinter dem Ministerium für Traditionspflege bog er in eine breite Allee ein, die parallel zum Fluss verlief. In den Hochhäusern zu beiden Seiten der StraÃe arbeiteten ausschlieÃlich Beamte der Regierung. Sie ragten bis zu fünfzig Stockwerke hoch in den Himmel. Viele von ihnen waren aus verspiegeltem Glas, das in den letzten Strahlen der Sonne einen orangeroten Schein annahm. Alle Gebäude hatten unterschiedliche Formen, aber dennoch wiesen sie eine gewisse Zusammengehörigkeit auf. Manche zeigten wie überdimensionale Zeigefinger in die Höhe, andere wie gereckte Daumenpaare. Die Fahrbahn war gefüllt mit Limousinen, die wichtige Besucher oder Bürokraten absetzten oder abholten. Boten pendelten mit kleinen Karren voller Dokumente zwischen den Gebäuden hin und her. Doppelstöckige Touristenbusse krochen die Allee entlang. Kuriere auf Gyroscootern schossen durch den Verkehr, um ihre Sendungen abzuliefern, und von der Anlegestelle am Fluss ergoss sich ein ständiger Strom von Menschen in die Allee.
Enrique erreichte das Belletroquartier, das kulturelle und repräsentative Zentrum der Stadt, benannt nach Bartolomeo Belletro, dem bekanntesten Komponisten des Landes, der sich weniger durch musikalischen Avantgardismus als vielmehr durch Kompositionen auszeichnete, zu denen es sich marschieren und jubeln lieÃ. Im Belletro, wie es von den Einheimischen genannt wurde, befanden sich die öffentlichen Studios der sieben TV -Sender der Union. AuÃerdem gab es im Belletro noch zwanzig Kinos, ein Theater und ein Opernhaus. Letzteres war ausschlieÃlich dem Werk Belletros gewidmet.
Die in einer Linie nebeneinanderliegenden und nahezu identisch aussehenden Gebäude der Fernsehsender trugen den Spitznamen Seven Sisters. Sie beherbergten unter anderem riesige Studios, aus denen allabendlich Liveshows ausgestrahlt wurden. Entsprechend hoch war der Publikumsandrang auf dem Platz.
Enrique drängte sich durch die Menge der Wartenden und hielt vor einem Schnellrestaurant an. Durch die groÃen Glasscheiben betrachtete er das Gedränge vor den Kassen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Ein junger Mann, der kaum volljährig schien, grinste Enrique an.
»Mann, dir läuft der Geifer ja bereits das Kinn runter.«
»Marek!« Enrique streckte dem Neuankömmling die Hand entgegen. »Du liegst nicht ganz falsch. Ich könnte schon etwas Nahrung vertragen.«
»Aber nicht hier.« Marek verzog das Gesicht. »Ich kenne da ein kleines Bistro im Kuppelquartier, da können wir uns für wenig Geld den Bauch vollschlagen. Und es schmeckt auÃerdem noch gut.«
»Worauf warten wir dann?«
Sie bahnten sich einen Weg am Rand des Platzes entlang. Hinter der Letzten der Seven Sisters befand sich ein Taxistand.
»Wollen wir fahren?«
Marek schüttelte den Kopf. »Mein Kopf ist heute bereits häufig genug abgelichtet worden.«
Alle Taxis der Stadt waren mit Ãberwachungssystemen ausgerüstet, die nicht nur die Gesichter der Fahrgäste festhielten, sondern auch den Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Fahrt.
Enrique, der in den letzten Stunden viel gelaufen war, hätte ein Taxi vorgezogen, schloss sich aber dem Wunsch seines Begleiters an. Nur wenige Minuten später hatten sie die Prachtmeilen des Zentrums verlassen und waren in die schmalen StraÃen des Kuppelquartiers eingetaucht.
Inzwischen war die Sonne völlig untergegangen. Die flackernden Leuchtreklamen der Bars, Bistros und Bordelle tauchten die Gehsteige in ein unwirkliches Licht. Viele der Häuser wiesen deutliche Spuren von Verfall auf und waren lediglich im Erdgeschoss notdürftig herausgeputzt.
Marek führte Enrique in ein kleines Bistro. Lautes Klappern von Messern und Gabeln auf Porzellan mischte sich mit engagierten Gesprächen und den melancholischen Klängen einer Fado-Sängerin, die aus verborgenen Lautsprechern schallten.
Sie fanden einen kleinen Tisch, der zwischen einen altmodischen Garderobenständer und die Tür zu den Toiletten gepresst worden war. Marek beugte sich zu Enrique vor: »Hier gibt es weder Kameras noch Mikrofone.«
»Ach nein?« Enrique deutete auf das Objektiv in einer Ecke des Raums. Marek grinste.
»Aus irgendeinem Grund werden die Aufnahmen auf ihrem Weg in die groÃe Lauschzentrale immer ersetzt durch Bilder, die schon mehrere Tage alt sind. Und aus demselben Grund ist der
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