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Das Wörterbuch des Viktor Vau

Titel: Das Wörterbuch des Viktor Vau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruebenstrunk
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seiner Bestimmung fügen musste.
    Seitdem erhielt er regelmäßig seine Anweisungen. Anfangs hatte er noch Fragen gestellt, warum ein bestimmtes Opfer ausgewählt worden war. Doch inzwischen verließ er sich darauf, dass sein Auftraggeber schon die richtige Wahl traf.
    Er löste zuerst die Fuß- und dann die Handfesseln. Der Körper sackte zu Boden. Der Florist beugte sich herab, fasste die Leiche unter den Achseln und Knien und trug sie zur Werkbank. Dabei fiel ihm wieder einmal auf, um wie viel schwerer ein toter im Vergleich zu einem lebenden Körper schien.
    Er legte die Frau auf den Bauch und betrachtete ihren Rücken. Glücklicherweise trug sie keine Tätowierung wie viele ihrer Altersgenossinnen. Er betastete die Haut und prüfte ihre Ebenmäßigkeit. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es eine Menge Unreinheiten gab, die man mit dem bloßen Auge nicht erkennen konnte. Auch in dieser Hinsicht war das Opfer nahezu perfekt.
    Der Florist zog einen Filzstift aus der Tasche und begann, den Umriss einer Blüte auf den Rücken knapp unterhalb der Schulterblätter zu zeichnen. Diesmal hatte er sich für eine Malve entschieden. Als er damit fertig war, wählte er eines der Skalpelle aus und punktierte die Außenlinie der Zeichnung mit der scharfen Spitze. Mit einem zweiten Skalpell fuhr er die Linie mit mehr Druck nach. Es trat nur wenig Blut aus, das er mit einem Papiertuch abwischte.
    Nachdem das Muster von der umgebenden Haut getrennt war, griff er zu einem Messer mit Keramikklinge, fuhr damit unter dem Hautstück hindurch und hob es sauber ab. Einen Moment lang betrachtete er es andächtig und legte es dann vorsichtig auf den Rand der Werkbank. Jetzt kam der schwierigere Teil der Arbeit.
    Der Florist zog aus einer Kiste unter dem Tisch eine Gummischürze, die er sich umband, sowie zwei Gummihandschuhe, die ihm bis zu den Ellbogen reichten. Dann nahm er eine der Sägen zur Hand und begann mit seinem Werk.
    2.
    Enrique da Soza lehnte über dem Geländer der Unionsbrücke und beobachtete den MagZep, der soeben auf dem Flugfeld neben dem Rektorenpalast landete. Aus dem Studium alter Bildbände über die Stadt wusste er, dass ein komplettes Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht worden war, um Raum für den Amtssitz des obersten Würdenträgers der Dynastie zu schaffen.
    Das Luftschiff trug eine ihm unbekannte Kennzeichnung. Wahrscheinlich ein Staatsbesucher oder anderer wichtiger Gast, der dem Rektor einen Besuch abstattete. Dafür sprach auch die Militärpräsenz auf dem Platz vor dem Palast.
    Etwa zwei Kilometer flussabwärts konnte Enrique die Umrisse der Fortschrittsbrücke erkennen. Im kleinen Hafen vor dem Regierungsbezirk lagen mehrere Patrouillenboote der Marine vor Anker.
    Er löste sich vom Geländer und machte sich auf den Weg zum Ufer. Die Brücke war voller Passanten, die sich in zwei dichten Strömen in gegenläufiger Richtung bewegten. Schichtwechsel, dachte Enrique. Die Wolkenkratzer des Regierungsbezirks mit ihrem dem Zuckerbäckerstil nachempfundenen Design reflektierten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne. In ihnen waren Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende Beamte rund um die Uhr mit der Verwaltung des Staates beschäftigt.
    Entlang der Brücke schalteten sich nacheinander die Laternen ein. Eng gestaffelt, verbreiteten sie selbst bei tiefster Dunkelheit ein dem Tag ähnliches Licht. Das gesamte Regierungsviertel wurde auf diese Weise erleuchtet. Es gab keine Schatten und dunklen Winkel, in denen sich jemand hätte verstecken können. Die Kriminalitätsquote in diesem Bezirk lag darum auch bei nahezu null Prozent.
    Enrique überquerte den Platz am Ende der Brücke. Mit seiner Jeans, dem offenen Hemdkragen und dem zerknitterten Sakko hob er sich deutlich von der Masse ab und zog unweigerlich die Blicke der Polizisten auf sich, die in kleinen Gruppen überall verteilt waren. Sein Sechstagebart und die etwas zu langen Haare trugen nicht gerade dazu bei, ihn unauffälliger erscheinen zu lassen.
    Er wusste, dass die Uniformierten längst ein Foto oder Video von ihm mit einer zentralen Datenbank von Straftätern und Staatsfeinden verglichen hatten, sonst hätte er den Platz nicht unbehelligt überqueren können. Videokameras waren im Stadtzentrum nahezu allgegenwärtig. Ihre Aufzeichnungen wurden in Echtzeit mit den gespeicherten Daten abgeglichen, auch das ein Grund, warum

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