Das Wörterbuch des Viktor Vau
einem dunklen Hauseingang lag. Marek wollte schon weitergehen, als er den Mann stöhnen hörte. Seine Neugier siegte über seine Vorsicht, und er beugte sich über den Unbekannten und half ihm auf die Beine. Dabei stellte er fest, dass der Fremde überhaupt nicht nach Alkohol roch.
»Was ist los mit dir, Mann?«, fragte Marek.
Der Fremde stolperte ein paar unsichere Schritte vor sich hin.
»Wo �«, stammelte er. »Welcher ⦠Ort �«
»Du bist im Kuppelquartier, wo sonst? Sag bloÃ, du weiÃt nicht mehr, wie du hierhin gekommen bist?«
Doch genau so war es. Alles, was Marek in jener Nacht aus dem Unbekannten, dessen Wortschatz nicht mehr als dreiÃig oder vierzig Wörter umfasste, herauskriegen konnte, war, dass er keine Wohnung hatte und keine Ahnung, wie er an diesen Ort gekommen war. Also nahm er ihn erst mal mit zu sich. Er war selbst auch erst vor einigen Wochen in der Stadt angekommen und wusste, was es bedeutete, als Fremder und ohne Papiere an diesem Ort zu sein.
Das schien inzwischen ewig lange her zu sein. Enrique hatte schnell einen Sprachkurs belegt und sich eine eigene Wohnung gesucht. Marek hatte nie erfahren, woher er gekommen war. Er vermutete, dass sein Freund sich von Schleppern hatte ins Land bringen lassen und mit ihnen über die Bezahlung in Streit geraten war. Enrique widersprach dem nicht, bestätigte es aber auch nicht.
Marek legte die Zeitung weg und grinste seinen Freund an.
»Freust du dich schon auf gleich?«
Enrique zuckte mit den Schultern. Besonders begeistert sah er nicht aus. Marek hatte ihn lange bearbeiten müssen, bis er eingewilligt hatte, ihn in die Diskothek zu begleiten. Sein Freund verkroch sich den ganzen Tag in seiner kleinen Wohnung, und wenn Marek ihn nicht immer wieder aus seinem Schneckenhaus gezerrt hätte, wäre er wahrscheinlich überhaupt nicht unter Menschen gekommen.
Dabei sah Enrique gut aus, auch wenn er alles tat, um das zu verbergen. Er hatte ein offenes, fröhliches Gesicht, dessen Züge gerade so asymmetrisch waren, dass sie Interesse weckten. Die Lachfalten um seine Mundwinkel signalisierten, dass eine verborgene Heiterkeit in ihm steckte. Vielleicht war er in einem früheren Leben einmal ein wahrhaftiger SpaÃvogel gewesen, heute war er der ernsteste Mensch, den Marek je getroffen hatte. Entsprechend kleidete er sich auch. Grau und Dunkelblau waren die dominierenden Farben. Seine Hosen und Hemden stammten aus den billigsten Kaufhäusern. Enriques einzige Konzession an den Zeitgeist war sein Sechstagebart, dessen Schatten allerdings seine melancholische Grundhaltung unterstrich.
»Du kennst viel zu wenig vom Leben«, fuhr Marek fort. »Aber verlass dich auf mich. Ich weiÃ, wo es langgeht, und vor allem, wo die scharfen Bräute sind.«
Enrique schüttelte den Kopf. »Wann wirst du endlich begreifen, dass mir Frauen im Augenblick ziemlich egal sind.«
»Das ist ja das Problem!« Marek beugte sich vor. »Du treibst dich tagsüber in deinem Bistro herum und hockst abends in deiner dunklen Wohnung. Dabei kann man ja nur depressiv werden! Du magst keine Musik, du gehst nicht in Kunstgalerien, du liest keine Gedichte, du lachst nicht über Witze â kann es noch schlimmer werden? Du bist der langweiligste und ernsteste Mensch, der mir je begegnet ist, und du bist nicht bereit, freiwillig dein Leben zu ändern. Deshalb brauchst du eine Frau, je eher, desto besser. Glaub mir, ich weiÃ, wovon ich rede.«
»Ich weià deine Bemühungen zu schätzen«, sagte Enrique. »Aber ich fürchte, sie sind vergebens.«
»Ich glaube bald wirklich, du bist ein hoffnungsloser Fall.« Marek lieà den Kopf in gespielter Verzweiflung sinken. »Du wirst schon sehen, was du davon hast. Irgendwann gebe ich auf, und dann stehst du ganz ohne Freunde da.«
»Manchmal wäre das gar nicht so übel«, konterte Enrique. »Dann könnte ich diese Nacht in meinem Bett verbringen, anstatt mir die Beine in einer Diskothek in den Bauch zu stehen.«
»Manchmal muss man seinem Schicksal eine Chance geben. Und du wirst mir noch dankbar sein, wenn du erst mal die richtige Frau gefunden hast«, brummte Marek und versteckte sich wieder hinter seiner Zeitung.
4.
Das Studio X war in diesem Jahr die angesagteste Diskothek der Stadt. Entsprechend lang waren die Menschenschlangen vor der Tür, und es dauerte eine Stunde, bis Enrique
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