Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
mit dem skelettierten Tigerschädel als Kopfschmuck hatte Trommel und Rassel fallen lassen und rieb hoch in der Luft die Hände aneinander. Ein feines Netz aus weißen Blitzen zuckte um seine Finger. Sein rot bemaltes Gesicht zeigte keine Regung, seine Augen waren geschlossen, die Lippen aufeinander gepresst. Durch die erhobenen Arme war das schwarze Fell hochgeglitten, doch der Lavaschein reichte nicht aus, um den Körper darunter sichtbar zu machen. Die blutroten Züge und der Tigerschädel schienen über einem Nichts aus Schatten zu schweben.
Auch der zweite Schamane hielt die Arme nach oben, doch sie berührten sich nicht. Zwischen seinen Händen befand sich etwas in der Luft, das auf den ersten Blick wie gespannte schwarze Wollfäden aussah. Doch die dunklen Linien verflochten sich jetzt wie von selbst miteinander, verdrehten sich zu einer Art Zopf, wogend und wabernd wie eine waagerechte Rauchsäule.
Beide Männer stießen im selben Moment eine kurze, harte Silbe aus und machten eine Bewegung, als schleuderten sie etwas hinunter auf die Kämpfenden. Das schwarze Knäuel raste in die Tiefe, öffnete sich im Flug zu einem Netz aus Dunkelheit und schoss genau auf Wisperwind zu.
Die weißen Blitze aus den Händen des anderen Schamanen fauchten als glühender Stern in die Tiefe. Sie überholten den Schattenwirbel und trafen Li, der gerade mit seiner Lanze einen Angriff von drei Mandschu gleichzeitig abwehrte. Der Blitzball berührte seinen Schädel, breitete sich darüber aus wie eine Flüssigkeit und versickerte in der Kopfhaut.
Der Unsterbliche schrie auf, schleuderte die drei Angreifer von sich und stolperte zugleich ein Stück zurück, näher auf die Kante des Lavaabgrunds zu.
Das Schattengeflecht breitete sich über Wisperwind. Die Kriegerin war gerade erst wieder auf die Beine gestolpert, noch geschwächt vom ersten Angriff der Schamanen, als das schwa r ze Gewebe sich über sie legte. Sie schlug mit den Zwillingsschwertern um sich wie eine Furie, während das Schattennetz sich immer enger zusammenzog und ihr die Luft nahm, oder ihr Chi, oder beides zugleich. Noch vermochte sie sich der Angriffe ihrer Gegner zu erwehren, aber es war eine blindwütige Verteidigung, und sie wirkte mit jedem Hieb verzweifelter.
Derweil wurde Li von seinen Feinden in Richtung des A b grunds gedrängt. Was die Soldaten zuvor nicht fertig gebracht hatten, schien ihnen nun zu gelingen: ihn allein durch ihre Masse zurückzustoßen. Die Blitze des Schamanen um seinen Schädel waren verschwunden, aber offenbar wüteten sie jetzt in ihm wie ein Schwarm Parasiten.
Noch drei Schritte trennten ihn von der Felskante. D a e rtönte ein gellendes Kreischen. Der Riesenkranich schoss von oben herab über die Köpfe der Kämpfenden, verschaffte Wisperwind eine Atempause und Li einen Vorteil von zwei Schritten vorwärts. Der Schnabel des Vogels klappte auf und zu und stieß schrilles Geschrei aus. Lotusklaue streckte sich aus dem Menschengewirr, hieb mit dem Schwert nach dem Bauch des Kranichs und verfehlte ihn knapp. Eine Hand voll grauer Federn rieselte auf den Mandschuhauptmann herab, während die Schwingen des Vogels im Vorbeiflug mehrere Soldaten zu Boden warfen. Dann war das Tier über die Kämpfer hinweg. Nugua erwartete, dass es einen Bogen fliegen und abermals niederstoßen würde. Stattdessen aber raste es den Felshang herauf, niedrig über Steinhöcker und Spalten hinweg, und hielt geradewegs Kurs auf den Schamanen mit dem Tigerschädel. Der Mann sah den Kranich auf sich zu kommen und kreischte ebenso laut wie der Vogel. Mit einem stumpfen Laut bohrte sich der lange Schnabel in seine Brust, riss ihn von den Füßen und trug ihn ein gutes Stück weit mit sich. Der aufgespießte Sch a mane packte den Hals des Vogels und drückte zu, ehe ihn endlich die Kräfte verließen. Sein Körper rutschte ab und stürzte jenseits des Felswalls in die Tiefe. Aber auch der Kranich war angeschlagen, geriet ins Trudeln und verschwand zwischen den Felsen.
Nugua hatte Tränen in den Augen, als Feiqing neben sie kroch und sie gemeinsam hinab aufs Plateau blickten.
Li hustete und spie eine Lichtkugel aus wie etwas, das ihm im Hals gesteckt hatte. Auf einen Schlag kehrte seine alte Kraft zurück, seine Lanzenhiebe gewannen an Schwung und Treffs i cherheit, und innerhalb wenige r H erzschläge trieb er seine Gegner wieder von der Kante fort. Zugleich versuchte er, Wisperwind zur Hilfe zu kommen. Doch da verstellte ihm Lotusklaue den Weg und
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