Das Wolkenvolk 01 - Seide und Schwert
– etwa dreißig Meter entfernt –, hatte sich trotz der Hitze ein schwarzes Fell überg e worfen, das ihn vollständig umhüllte. Angenähte Fransen hingen von den Rändern zu Boden. Vorn war der ausgehöhlte Schädel eines Tigers befestigt. Seine Kiefer waren weit aufgesperrt, das blutrot bemalte Gesicht des Schamanen schaute zwischen ihnen hervor wie aus einem Helm. In seinen Händen hielt der Mann eine lederbespannte Trommel und eine Knochenrassel.
Der zweite Schamane stand am südlichen Ende des Felse n rings, mehr als hundert Meter von Nugua entfernt. Er hielt sich tief vorgebeugt wie eine uralte Frau und stützt e s ich auf einen Stab, an dessen Ende ein Wolfsschädel grinste. Auch er war in dunkles Fell gehüllt, das auf allen Seiten den Boden berührte. Dadurch wirkte er noch animalischer und fremdartiger, ein finsterer Buckel, der ein Auswuchs der Felsen hätte sein können. Jetzt hob er den linken Arm unter dem Fell und deutete mit gekrümmtem Zeigefinger in die Tiefe. Der andere Schamane begann, mit der Rassel auf seine Trommel zu schlagen, ein hypnotischer, rhythmischer Lärm.
Übelkeit fegte wie eine unsichtbare Woge über Nugua hinweg. Ihre Ellbogen knickten ein, sie sackte hart auf den Bauch. Für einen Moment verlor sie das Plateau aus dem Blick und fürcht e te, sich übergeben zu müssen. Sie versuchte, sich zu beruhigen, bis sie wieder atmen und, wichtiger, klar denken konnte. Zittrig stemmte sie sich hoch.
Die Lage am Fuß der Felsen hatte sich schlagartig verändert. Mehr als ein Drittel der Mandschu lag reglos am Boden, aber nur die wenigsten waren von Li und Wisperwind getötet worden. Etwas schien sie gepackt, in die Luft gehoben und mit verdrehten Gliedern zu Boden geschmettert zu haben.
Auch Wisperwind lag am Boden. Noch hatte sie Kraft genug, sich gegen die restlichen Angreifer zu verteidigen. Ihr Gesicht war verzerrt, der Strohhut in der Masse verschwunden, ihr Haar zerzaust und blutig. Aber auch ihre Gegner waren angeschlagen, einige hieben ungezielt um sich und drohten ihre Kameraden zu verletzen.
Der Zauber der Schamanen hatte vor ihren eigenen Soldaten nicht Halt gemacht. Und doch kämpfte Li noch immer so kraftvoll wie zuvor. Der Unsterbliche war einer der wenigen, die unversehrt geblieben waren.
Eine einzelne Gestalt, ein Krieger, größer als die anderen, löste sich aus dem Getümmel, eilte auf die Felsen zu und gestikulierte zu den beiden Schamanen herauf. Nugua erkannte ihn sofort. Lotusklaue. Selbst von weitem sah sie drei tiefe Risse, die über sein Gesicht führten wie der Schatten eines Dreizacks. Sie waren dunkel verkrustet, wahrscheinlich grob genäht, und wie durch ein Wunder hatten sie seine Augen unversehrt gelassen. Seine Lippen aber waren gespalten und grässlich geschwollen. Selbst die Eisenplatte, die in seine Stirn eingelassen war, hatte eine scheußliche Delle abbekommen. Andenken an die Tiger, die Nugua auf ihn und seine Männer losgelassen hatte. Darum also verfolgte er sie mit solcher Wut.
Seine Befehle hielten die Schamanen von einer zweiten Att a cke ab. Während er zurück ins Gefecht und in Lis Richtung drängte, verstummte der rasselnde Trommelschlag. Die beiden Magier erstarrten zu grotesken Silhouetten vor dem roten Himmel. Nur die Hitzewinde belebten ihre Felle und zottigen Fransen.
Nugua suchte verzweifelt nach Feiqing. Waren Li und Wi s perwind zu spät gekommen? Sie sah nirgends seine Leiche. Hatte Lotusklaue den Rattendrachen in die Lava werfen lassen? Ihre Kehle schnürte sich zu, als die Szene vor ihrem inneren Auge Gestalt annahm.
Hinter ihr erklang ein Scharren.
Als sie sich vom Bauch auf den Rücken drehte, bereit, sofort aufzuspringen, erkannte sie eine knollige Nase hinter einem Felsen, gefolgt von einer spitzen Schnauze.
Die Erleichterung entlockte ihr ein heiseres Keuchen. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut seinen Namen zu rufen.
Feiqing hob einen dicken Finger und legte ihn ans Maul. Seine Lefzen verzogen sich zu etwas, das ein Grinsen sein mochte. Nugua hätte ihn am liebsten umarmt; stattdessen aber nickte sie ihm nur freudestrahlend zu, rollte sich wieder herum und sah zurück in die Tiefe.
Erneut wurde sie von Entsetzen gepackt. Sie hatte sich g e täuscht. Die Schamanen warteten keineswegs untätig ab, wie das Gefecht dort unten ausging. Statt aber einen zweiten mächtigen Vernichtungszauber zu wirken, gingen sie nun zu einer feineren, gezielteren Form des Angriffs über.
Beide hatten die Arme erhoben. Der
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